strichwort ab juni 2011

Begriffserklärung

gipfeltreffen = crème de la crème auf engstem raum

(juni 2017)

Das Leben meiner Tante

oder

Wie ich das Leben meiner Tante mit eigenen Gedanken bevölkere

Ich sitze in einem grünen Sessel, auf der Armlehne liegt dein Aufnahmegerät. „Erzähl“, sagst du, „ich werde es hören.“ Dann schaltest du das Gerät ein, berührst mich flüchtig an der Schulter und verlässt den Raum und das Haus und vielleicht sogar das Land.

Es ist ein weisses Aufnahmegerät. In seiner Mitte blinkt ein roter Knopf. Je lauter ich rede, desto schwärzer wird das Display. Ich gehe davon aus, dass das Gerät jetzt aufnimmt und mir Ewigkeit abtrotzt. Ich soll also erzählen. Wieso nimmst du an, dass ich mit einem Gerät rede? Die meisten sprechen mir das Reden ab. Lädierte Stimmbänder, Geistesstörung, Altersmüdigkeit – die Leute suchen weit.

Sven nicht. „Sie sind einfach stur.“ Weiter suchte er nicht und griff damit zu kurz. Ich weiss nicht, wie es dazu kam, dass er plötzlich in meinem Wohnzimmer sass. Er klopfte einfach eines Tages an die Tür und sagte „hallo“ und „Ich heisse Sven“. Einmal lauschte ich einem Telefonat. Er stand draussen vor dem Fenster. Ich verstand nichts. Sein Gesicht blieb ernst, während seine Stimme lachte. Er schien zu merken, dass ich ihn beobachte. Polmak, sagte er, als er hereinkam. Er kommt tatsächlich aus dem Norden, aus Lappland, vom Polarkreis, dorther, wo für mich etwas liegt, was ich nicht fassen kann – es liegt immer einen Horizont weiter, als man sehen kann (DIE ZEIT, 15. März 2015). Dafür rücken in der Kälte die Geräusche näher. Sie werden heller, klarer. Zerbrechlich wie Glas.

Mit Sven trat zum ersten Mal ein Wikinger in mein Haus. Ungefragt eroberte er mein nobles Wohnzimmer. In der Landnahme versteht er sich offensichtlich ebenso gut wie seine Vorfahren, sie taten es an den Küsten Europas, Grönlands und Amerikas (Theseus). Und meine in Kanaan. Paul hätte Freude gehabt an Sven – einem Mann aus der Wildnis. Paul hatte oft Sehnsucht nach Wildnis. Geborgen fühlte er sich in ihr. Nur einmal – wir wanderten in der Dämmerung auf dem gefrorenen Fluss Deatnu – blieb er unvermittelt stehen. Auch auf mein Drängen hin ging er keinen Schritt weiter. „Plötzlich überkommt mich die Angst vor der herannahenden Nacht, vor dem Alleinsein – und den Landminen“ (NZZ, 2.10.15). Er setzte sich hin und rührte sich nicht. In seinem Bart und seinen Wimpern bildeten sich kleine Eiskristalle. „Gut“, sagte ich, und setzte mich neben ihn.

Als ich ihn heiratete, wusste ich um seine dunklen Erinnerungen. Ich heiratete sie mit dazu. Nach der Hochzeit zogen wir weit weg vom Ort, der ihn so gepeinigt hatte. Ein Schiff brachte uns fort. Wir haben die Brücke hinter uns – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft). Die Erinnerungen blieben. Sie überfielen Paul einmal pro Jahr. Dabei wurde er sperrig wie ein Stück Holz. So auch auf dem erwähnten Fluss in Lappland. „Wir verkommen hier zu Eisgeistern“, sagte ich. Paul nickte. Nach einer Weile begann er leise zu singen. „Ich kann kaum mich rühren, noch Atem holen ...“ – „Lass mich wieder gefrieren“, setzte ich fort. Paul lachte, griff nach meiner Hand, wie er es damals in der Oper während der Frostszene zum ersten Mal tat. Als wäre nichts gewesen, erhob sich Paul nach einer Weile, wischte sich den Schnee von den Hosen und stapfte weiter. „Trödle nicht“, rief er. Die Worte hingen als weisse Wolken über seinem Kopf.

Ob ich die Aufnahme zurückspulen und neu überspielen kann? Du sitzt jetzt irgendwo, Nichte, und hörst, wie ich springe, von einem zum anderen, und der Sinn dabei auseinanderfällt. Was erwartest du zu erfahren, wenn ich den Vorhang fallen lasse? Warum willst du überhaupt etwas erfahren? Brauchst du einen Text? Ich sehe den Titel vor mir: Das Leben meiner Tante. Dabei gleicht mein Leben vielen anderen. Das hat selbst Sven verstanden.

Er setzte sich immer auf einen Stuhl, zwei Meter von meinem Sessel entfernt, und wartete. Nach einem Jahr begann er zu reden. Ich sass vor ihm und löffelte Jogurt aus einem Halbliter-Kübel. Svens Reaktion verblüffte mich, da er sonst wenig erzählte: „Mein Vater stürzte wegen Jogurt die Treppe hinunter“, sagte er. Ich betrachtete den Kübel in meiner Hand, stellte ihn auf den Beistelltisch und nickte. Sven hob die Augenbrauen. „Möchten Sie das hören?“ Er kratzte sich am Kinn. „Na gut“, fuhr er fort. „Meine Schwester und ich assen Jogurt zum Frühstück. Ich war ein hungriges Kind. So griff ich zum Halbliter-Kübel. Das regte meinen Vater auf. Er selbst verzichtete auf Jogurt. Der Heiland habe ihm davon abgeraten, wegen der schädlichen Chemie“ (Blick, 19.11.2012).

Sven unterbrach seine Erzählung. „Mein Vater war gläubig, müssen Sie wissen. Glauben Sie etwas?“ Ich schüttelte den Kopf. Sven zuckte mit den Schultern. „Nun, der Glaube meines Vaters war stark. Er vermochte zwar keine Berge zu versetzen, dafür uns über die Landesgrenze, von Finnland nach Norwegen. Nicht weil ihm Norwegen besser gefallen hätte: ‚Ein Prophet gilt nichts im eigenen Land’ (Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters), pflegte er zu sagen. Und ein knurrender, durchaus chemietoleranter, Kindermagen galt nichts in Vaters Gegenwart. Er nahm mir den Löffel aus der Hand und warf ihn die Treppe hinunter. Mutter sagte: ‚Gib dem Kind den Löffel wieder’. ‚Nein’, sagte er. Mutter erhob sich, um den Löffel zu holen. Das war dem Vater nicht recht. ‚Ich geh ja schon’, murrte er, und eilte an der Mutter vorbei, verhedderte sich in ihrem Rock und stürzte die Treppe hinunter.“ Sven trat ans Fenster. „Da ging er schon.“

Ich geh ja schon. Als Sven weg war, sprach ich den Satz ein paar Mal aus. Je nach Betonung verändert er seine Bedeutung. Wenn ich schon statt geh betone, erhält der Sturz etwas Überraschendes. Schon gehen birgt die Überraschung ja eigentlich in sich, nicht wahr, Nichte? Wo sitzt du jetzt, während du die Aufnahme hörst? In England? In der Schweiz? Die Schweiz ist ein gespaltenes Land (Der Bund, 19.10.2015) mit all ihren brückenüberspannten Gräben und Spalten. Davon überzeugte ich mich vor ein paar Jahrzehnten selbst. Baut ihr keine Brücken, bohrt Ihr Löcher, manchmal zwei nebeneinander, womit ihr die Gemüter spaltet. Mein Gemüt ist ruhig. So auch Pauls’, denke ich. Wären das Leben ein Meer, dessen Pegel die Jahre und wir das Land, so liesse der steigende Meeresspiegel unser Land verschwinden (Berner Zeitung, 9.11.2015), mit Schaumkrönchen auf Wellen als einziges Überbleibsel. Land unter, Nichte, nur ohne Sturmflut.

Eines Tages erhob sich Sven und sagte nichts als: „Ja.“ Er ging und kam nicht wieder. Die Zeit geht manchmal still ins Land. Ob meine Töchter Sven bestellt hatten, damit er mich zum Reden bringt? Ich weiss es nicht. Das Schweigen enthält mir Antworten auf Fragen vor, die ich nicht stelle, und bringt mir Antworten auf Fragen, die ich nicht habe. „Du machst es dir leicht“, sagte Paul und verkannte die Herausforderung, vor der ich stehe. Schlage ich mir nicht redend einen Pfad durch die mich umgebende Sprache, finde ich mich bald in einem wuchernden Land fremder Fantasien, das ich mit eigenen Gedanken bevölkern muss (Kurt Tucholsky). Meine Gedanken – naja - das sind manchmal richtige Landplagen.

Warum denkst du, dass das Leben deiner Tante spannend ist, Nichte? Weil du es durch ihr Schweigen schon selbst mit eigenen Gedanken bevölkert hast? Streich den alten Titel und setze diesen: Wie ich das Leben meiner Tante mit eigenen Gedanken bevölkere. Dann nimm das Aufnahmegerät und erzähl. Ich werde es hören.

(sarah king, 15.1.2016)

Das Ding mit dem Tier und dem Tod

Tucholsky, so sagen sie, der sei okay.

Aber zuerst: Es sollte eine Geschichte sein, in der Vögel vorkommen. Vögel sind dem Menschen nur so lange treu, wie sie kein gattungsgleiches Gspändli im Baum erspähen, und sie sterben, wenn man sie mit Sportusal Gel verarztet, so viel weiss ich.

Andere wissen anderes. Das Magazin zum Beispiel, warum der Mensch den Vogel nicht versteht: „Vögel wirken kalt. Wir können ihre Gefühle nicht lesen – vielleicht liegt es an den starren Schnäbeln, an der fehlenden Mimik“ (14.4.12), und Markus M. Ronner, warum der Vogel den Menschen nicht versteht: „Körner im Winter - Vogelscheuchen im Sommer.“ Eine etwas poetischere Verwendung für das Gefieder fand Udo Jürgens: „Man muss natürlich wissen, das Glück ist ein flüchtiger Vogel. Er setzt sich bisweilen auf deine Schulter und beschenkt dich mit seiner Gegenwart, aber er ist ganz schnell wieder weg“ (Zeit Magazin, 21.12.14). Man kann sich auch an Malcolm Tait halten: „Vögel sind kleine Lebensschnipsel, die in unser Bewusstsein sickern und Erinnerungsmuster bilden“ (NZZ, 23.12.14).

Es wurde eine Geschichte mit vielen Vögeln. Sie handelt von einer Frau und einem Mann, beide namenlos, sie erscheinen als Ich und Du, liegen bequem, er erzählt vom Glück – diesem flüchtigen Vogel, sie von den Gründen, warum der Vogel dem Menschen nicht trauen kann und flüchten muss (er lässt Katzen, Flugzeuge, brotbeladene Senioren und Kinder auf Vögel los). Das erinnert ihn an das Erlebnis am See, wo sie gemeinsam Vögel fütterten und danach badeten, statt Liebe zu machen, also eigentlich in den Worten des Blicks „Ich wollte einfach nur vögeln“ (14.10.14), aber beim Überarbeiten des Texts kam die Direktheit abhanden. Jedenfalls setzte sich mitten im See ein Eisvogel auf ihre Schulter, er war entzückt, schwamm ans Ufer, holte einen Fotoapparat, währenddessen ertrank sie mitsamt Vogel (man erinnert sich: Vögel sind kleine Lebensschnipsel, die sickern ...), was er bis anhin nicht begriffen hat. So kommt es, dass der Dialog zwischen ihm und ihr von ihm alleine bestritten wird, doch auch das hat er noch nicht begriffen. Die Geschichte war reich an Metaphern. Die Sätze waren kurz.

Die Leser verstanden die Geschichte nicht: zu viel Du und zu wenig Ich, wenn doch vor allem das Ich den Dialog führt, aber vor allem das Du wahrhaftig am Dialog teilnimmt. Auch ist das mit dem Vogel so ein Ding, wenn er mal als Tier und mal als Metapher in Erscheinung tritt. Sowieso sind Metaphern bei genauerem Überlegen stets ein bisschen kühn, ist doch Glück kein Vogel, schon gar kein flüchtiger, weil das Glück so konkret und der Vogel so unfassbar ist. Und warum schon wieder sind Vögel Lebensschnipsel, die versickern und das ins Bewusstsein, wo sie so etwas wie Muster bilden? Da fasst Tait ganz grosse Themen in einem ganz kleinen Satz zusammen. Themen, mit denen Büchereien ganze Regale füllen. Dann ist da noch das Ding mit dem Tod. Figuren sterben zu lassen – seien sie noch so langweilig, überflüssig, kompliziert oder sonst wie störend – das ist dreist. Im Krimi, ja, da kann die Nachbarin schon mal grundlos erschossen werden, in einer Geschichte über Götter scheint es sogar ein geschickter Zug, den Leser mithilfe einer absinkenden Figur an Neptun heranzuführen. Aber einfach aus dem Nichts heraus sterben lassen - nur weil es eine Metapher nahelegt – das ist dreist. Wie stellt man sich das überhaupt vor – Tod durch versickern?

Den Verlauf einer bestehenden Geschichte zu ändern, gleicht dem Unterfangen, aus einem Vogel einen Fisch zu machen, mit der Gefahr, irgendwo dazwischen stecken zu bleiben. Ich tue es trotzdem, bringe die Vögel vorsichtig in Verbindung mit mehr Ich und etwas weniger Du, beide gesund, beide gute Schwimmer, so dass sie nicht wegen eines Eisvögelchens auf der Schulter absinken. Doch das Ding mit dem Vogel kommt mir in die Quere: frei wie ein Vogel, vogelfrei, vögeliwohl, Spassvogel – so viel Tier im Menschen, wo führt das hin? Ich erinnere mich an ein Interview vor zwölf Jahren. „Wären Sie ein Tier, was wären Sie für eins?“ Hätte er gesagt: Ein Fuchs, ein Löwe, eine Giraffe, eine Kuh, hätte ich daraus geschlossen, er sei schlau, mutig, trage den Kopf etwas hoch oder sei ein Wiederkäuer. Ich hätte zur Sicherheit meine Interpretation rückbestätigen lassen und am Ende doch nicht mehr gewusst als: „Er ist aber keine Kuh, sondern wäre nur eine, wie ist er wirklich?“

Der Mensch war weise, vielleicht hatte er auch keine Lust, fortan öffentlich mit Kühen in Verbindung gebracht zu werden. Er sagte: „Ich bin ein Mensch und kein Tier.“ Das brachte mich aus dem Konzept. Benommen starrte ich ihn an - wie ein an die Scheibe geklatschtes Vögelchen. Und er: „Er schweigt. Nur seine Hände machen eine Bewegung, die an das Auf- und Zuklappen der Flügel eines grossen Raubvogels erinnern“ (Panter, Tiger & Co.).

Tucholsky, so sagen sie, der sei okay.

sarah king, 21.1.2015

Im Wartezimmer

Sie sind verblüfft, nicht wahr?, ab meiner Direktheit. Bin ich etwa die erste, die Ihnen das sagt? Glaube ich nicht. Gehen Sie an einem Spiegel vorbei, gucken Sie beiläufig rein, als wären Sie sich selbst eine zufällige Begegnung, dann sehen Sie, was ich meine.

Ich sah es sofort, als Sie eintraten. Nicht wegen Ihrer Kleidung – das auch, aber ich sehe die Menschen kaum je angezogen, jedenfalls nicht sofort. Ohne etwas zuerst, dann ziehe ich sie gedanklich an, doch das ist ein anderes Thema. Nackt lassen Sie Ihre oiseaux rebelles frei, verstehen Sie? Wohl nicht. Schade. Sie wären erstaunt, izumljena, wie sie in meinem Land sagen. Das fühlt sich doch gleich ganz anders an, nicht wahr, -ljena, staunt, -ljena, sprechen Sie es aus, und hören Sie, wie sich der Unterschied anfühlt. Die Leidenschaft. Sie werden verstehen, irgendwann.

Ich bin sehr direkt, ich weiss, ich bin ein Risiko, war ich immer – als junge Frau schon, die Kugeln tanzten mir in Stranwinskis Manier um die Ohren, wie kleine zwitschernde Feuervögel. Kennen Sie sicher. Nicht? Oh, wie lange sitzen Sie schon hier!?

Irgendwann gehe ich zurück. Verstehen Sie nicht falsch, Heimweh kennen nur die Schweizer, müssen Sie wissen. Ich werden die Erinnerungen abholen, die Erde unter den Füssen, die fünf Bücher, oder was davon übrig blieb. Mein Wille ist ungebrochen, wie Sie merken. Wissen Sie, wie sich gebrochener Wille anfühlt? Als würde ihnen zuerst die Sprache genommen. Nicht die Laute, die sind noch da, aber die Wörter schwinden eines nach dem anderen, dann das Gehör, dann die Sicht, dann der Atem, zuerst klammern Sie sich am Willen fest wie an einem flüchtigen Geliebten, zerren noch ein bisschen an seinen Beinen, dann lassen Sie los. Nicht ich. Ich war stärker, ein Bein mindestens habe ich mitgenommen.

Nun, schauen Sie nicht so entsetzt. Das sage ich doch nur, weil ich sonst nichts Besseres weiss. Wüsste ich Besseres, würde ich schreiben. Ich wollte immer schreiben, doch der Schreiber lag schwer in meiner Hand, die Gedanken wickelten sich um ihn wie Eisendraht. So wurde ich Lästerin. Eine Meister-Leisterin, finden Sie nicht auch?

Herrje, ich war lange nicht mehr dort. Fünfzig Jahre, stellen Sie sich vor. Alleine kann ich nicht hingehen. So viele Erinnerungen kann ein Mensch allein doch gar nicht tragen. Begleiten Sie mich? Sie helfen meine Erinnerungen tragen, und ich trage Ihnen einen Spiegel. Ah, schon wieder. Zu nahe getreten. Dabei sitzen wir hier und bewegen uns keinen Millimeter. Warum sind Sie eigentlich hier? Wegen der Ohren?

Mein Gehör ist einwandfrei. Aber ich will, dass er es sagt. Ich will, dass er das Endoskop tief in den Gehörgang schiebt, vorbei an Schmalz und Härchen, und sagt: Sie zwitschern noch, die Vögel. Gleich öffnet er die Tür. Für eine von uns hat das Warten ein Ende. Wohl für mich. So lange warte ich schon. Schreiben Sie darüber. Über mich. Bitte.

september 2014, sarah king

Ganz pauschal

Es gibt Briefe, die übermitteln zu Bergen aufgetürmte Gedanken, mit in Stein gemeisselten Sätzen und schwerwiegenden Worten – richtige Brocken – und doch beträgt die Versandgebühr nicht mehr als bei einer simplen, luftigleichten Grusskarte. Das ist nett von der Post. Danke Post.

Mai 2014

Bitte stehlen, ich sehe nichts

Die Stadt schläft noch. Von Süden her bläst ein Wind über die Wasseroberfläche und hinterlässt tanzende Schaumkrönchen. Sie zählt Kohlköpfe. Siebzehn Stück. Fast niemand kauft Kohlköpfe. Die Frauen kaufen Rüben, Tomaten und Gurken. Manchmal stehlen sie auch. Wenn sie sich wegdreht, um zu niesen.

Sie muss selten niesen, weil fast nie etwas in der Luft liegt, das sie in der Nase kitzelt. Manchmal tut sie so, als ob sie niesen müsste, um mit dieser Gelegenheit Diebe zu machen. Das Gemüse muss weg. Wenn viel Gemüse weg muss, putzt sie sich nach dem Niesen umständlich die Nase und wenn ganz viel Gemüse weg muss, stellt sie ein Schild auf die Tomaten: „Bitte stehlen, ich sehe nichts.“ Sie genehmigt sich derweilen einen kurzen Spaziergang. Der Arzt hat schliesslich gesagt, sie solle sich ab und zu die Beine vertreten. Verschenken wäre auch eine Möglichkeit – das Gemüse – aber dann hätte sie nichts zu erzählen.

Die Kinder und der Mann machen grosse Augen, wenn sie abends am Tisch sitzt und berichtet: „Einmal kurz niesen – schon waren die Tomaten weg. Die alten Frauen sprinteten mit wehenden Kopftüchern davon, die Rockzipfel hier“, sie streckt die linke Hand hoch, „die Tomaten da“, sie zeigt unter den rechten Arm, „im Slalom zwischen den Gemüseständen hindurch, ich hinterher, den Rockzipfel hier“, sie streckt die linke Hand hoch, „eine Gurke als Schlagstock da“, sie streckt die rechte Hand hoch, „aber die Diebinnen hängten mich ab, warfen einander die Tomaten über die Köpfe der Passanten zu und verschwanden.“

Der Erzählung lässt sie meist einen Seufzer folgen – nicht zu laut und nicht zu lange. Die Kinder vergessen ihre Münder zu schliessen und der Mann schaut sie verliebt an. Sie blickt zufrieden zum Fenster hinaus auf das Meer. Der Wind hat gedreht, die weissen Schaumkrönchen tänzeln nun vom Westen her über die Wasseroberfläche. 

Februar 2014

D.

D. lacht räumlich. Er wirbelt nicht mit den Armen durch die Luft, wirft nicht den Kopf in den Nacken, sein Mund öffnet sich nur leicht, keineswegs weit genug, um einen Grossschall loszuwerden, eher kussweit, also fast gar nicht. Er sitzt einfach aufrecht auf dem Stuhl und lacht. Sobald er lacht, bewegt sich der Raum.

Sie drehen sich nach ihm um: das wohlfrisierte Rentnerpaar aus Chur und deren Schützling, neben ihm ein stilles Mädchen. Der Kellner hebt den Kopf, so auch die Leute vom Tisch nebenan. Sie blicken ihn an, diesen ergrauten Mittfünfziger, mit einer Frisur – linksschief und rechtssteil. Nicht der Coiffeur, nur ein Windstoss. Und es scheint, als wären sie alle bereit, in das Lachen miteinzustimmen.

Ds Lachen verebbt ebenso abrupt, wie es eingesetzt hat. Die Menschen wenden sich ab, atmen aus, sinken tiefer in ihre Stühle. Der Raum steht still, D. sitzt still. Er denkt, blickt Dich an und vielleicht ergreift ihn gerade die Langeweile oder die Melancholie oder doch nicht. Denn plötzlich steht die Liebe im Raum.

(Liebe: Der Ursprung jeder Inspiration? Nein.)

Mit einer Plastiktüte gegen den Wind rennen, bis sie prall gefüllt ist. Air de Genève, ma belle, in kraxliger Schrift. Dann mit Luftpost nach Bern. Ich bluffe. Mein roter Kopf, Dein roter Kopf, wenn wir fünf Meter voreinander stehen und uns höflich zunicken. Deine Augen, da ging es ab. Da. Er hält sich die Hände auf den Bauch, auf die Brust, an den Hals. Wie eine Rakete.

Jetzt wirbelt er mit den Armen durch die Luft. Obsession.

(Obsession: Überdimensionale Begeisterungsklumpen über den Lebensweg verstreut. Ein jeder in sich abgeschlossen und ohne Fortsetzung.)

Dann küssen im Kairo.

Stopp. Rewind.

Ein Kuss eben. Zuerst die Hände ergreifen und halten, einander nicht aus den Augen lassen, auch wenn Dein Blick vom Wein schon wacklig ist, dann die Gesichter zueinander hinbewegen, einander mit den Lippen begegnen und lange nicht mehr reden. Eine Woche vielleicht und länger.

Aber was rede ich. Du lachst? Ist Dir das peinlich, diese Liebe? Er schaut hinter den Vorhang aus schwarzem, langem Haar und erspäht die Antwort auf Deinem Gesicht. Du freust Dich, jeden Tag wieder, seit zwei Jahren. D. nickt. Seit zwei Jahren. Er kratzt sich am Kopf, auf der linksschiefen Seite. Er wünscht sich Normalität irgendwann.

(Normalität: Der Zustand des Nachdenkens über die Dinge und des Verstehens von Zusammenhängen. Ausbrechen aus dem Kopflosen. Flüchten. Gestörtes Wort.)

Nur einen Moment lang. Nicht jetzt, später. D. schüttelt den Kopf. Vielleicht auch nicht.

Er liebt Dich zusammenhangslos weiter, lacht räumlich, geht ab. Da. Die Hände auf dem Bauch, auf der Brust, am Hals. Wie eine Rakete. Er kratzt sich am Kopf. Auf der rechtssteilen Seite. Vielleicht ergreift ihn die Langeweile oder die Melancholie. Und auf einmal der Lärm von den Tischen nebenan.

november 2013 

Moderner Wunsch

Sich kompakt zusammengerollt in die Bandbreite des Glasfaserkabels passend durch das Netz zwängen. Am anderen Ende Du, ohne Mattscheibe.

oktober 2013 

Schuldkruste

Warmes Blut

schiesst heraus 

in einem Sturz,

Bach,

den Beinen entlang,

vor den Füssen

diese Lache,

See,

umspült die Waden,

weich,

gerinnt

zur Schuldkruste.

september 2013 

wer weiss

zwei dutzend steine, vielleicht,

ein tuch,

unter dem tuch ein mensch, eine puppe,

wer weiss das schon,

und wenn es wer wüsste, wüsste er doch nur etwas anderes, als ein anderer weiss.

darum,

zwei dutzend steine, vielleicht,

ein tuch,

unter dem tuch ein mensch, eine puppe,

wer will das schon wissen.

juli 2013 

 energiesparkronleuchter

juni 2013

Budget

Mein erster Brief von meinem Brieffreud, ein wirklich langer Brief, war 120 Meter lang, von Hand geschrieben, in gut lesbarer Schrift mit gleichmässig kleinen, ordentlichen Buchstaben, wie ich es selbst nie zustande gebracht hätte. Der Brief enthielt die amourösen Bekenntnisse eines der Liebe verfallenen Teenagers. Er war sehnsüchtig und hatte weder Papier noch Telefon, um seiner Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Email gab es damals noch nicht. So fasste er allen Mut, steckte in einem kleinen Café irgendwo an einem abgelegenen Ort eine Rolle Klopapier ein und setzte sich damit an den äussersten Rand der Welt. Er war überzeugter Anhänger der „die-Welt-ist-eine-Scheibe“-Vereinigung, in der sich all diejenigen aktiv in ihrer eigenen Meinung bestätigten, die überzeugt waren, dass die Erde nicht rund sein kann, solange die beiden Enden eines geraden Stocks die Erde berührten.

Mit seinem ersten Satz (Ich sitze mit leicht gekrümmten Rücken am äussersten Rand der Welt, vor mir ein Sternenmeer, meine Beine baumeln durch das Weltall, ab und zu streift ein kleiner Komet meine Fusssohlen, mal die linke, mal die rechte, es kitzelt, zu meiner Linken liegt eine Rolle Klopapier, schlicht und weiss, eher rau und einlagig, also wohl von der billigeren Sorte [heute hiesse es Budget], was mich nicht daran hindern soll, meine teuersten Gedanken darauf zu verewigen.) nistete er sich in mein visuelles und sensorisches Gedächtnis ein.

Was dann folgte, will ich hier nicht wiedergeben, auch wenn es lesenswert wäre, da er als eigensinniger „die-Welt-ist-eine-Scheibe“-Aktivist, als sehnsüchtiger Romantiker und Frühintellektueller ein begnadeter Schreiber war, was ich damals noch nicht erkannte, weil ich seinen Gedanken nicht folgen konnte. Ich las den ganzen Brief, 120 Meter, was nicht so einfach war, vor allem, wenn ich zurückblättern wollte. Dieses Problem löste ich, indem ich den Brief in unserer Wohnung auslegte, durch sämtliche Zimmer hindurch, die Treppe hoch, selbst die kleine Dachkammer drapierte ich damit. Mein sehnsüchtiger Brieffreund war sehr genau. Jedes einzelne Blatt hatte er sorgfältig nummeriert.

Beim tausendsten Blatt, ganz unten, fiel er plötzlich komplett aus dem Rahmen, seine Sprache verlor jeglichen poetischen Glanz, seine Gedankengänge fokussierten aufs Banalste, vor meinem Auge entstand das Bild eines schlaksigen Fünfzehnjährigen, der mit einem menschlich einfachen Problem konfrontiert war: „Die Rolle ist leer.“ Und in dem Moment war es um mich geschehen.

(20. April 2013) 

Ab–warten ernst genommen.

märz 2012

2 x Weihnachten

Zwischen Weihnachten und Neujahr, 8 Uhr 30, eine junge Frau geht durch die Strasse. Links und rechts an den Hausmauern lehnen Menschen in allen Formen, Farben und Grössen. Einige tragen ihre Schleifen im Haar, andere um den Bauch oder sonst wo. Die Frau entdeckt eine Lücke am linken Strassenrand zwischen einem grossen Mann, zwei Meter vielleicht oder mehr, mit Irokesenschnitt, und einer alten Frau am Stock. Man grüsst sich gegenseitig. Nicht überschwenglich. Einfach hallo. Man lächelt auch nicht. Die Frau reiht sich ein, sucht das violette Band in ihrer Tasche und knotet es um ihren Hals. Die Alte blickt sie prüfend an. "Na, wirst du weitergeschenkt?" Die Junge nickt. "Recycled. Will dieses Jahr vielseitig sein." - "Aha." Die Alte seufzt und zieht ihre Mütze tief über die Ohren. "So war es bei mir die letzten Jahre auch." – "Und jetzt?", fragt die Junge, während sie sich die Stiefel von den Füssen streift und in Turnschuhe schlüpft. Die Alte denkt nach. "Ich wollte mich wieder weiterschenken. Aber eigentlich bin ich müde von diesem alljährlich zweimal Geschenk sein. Gestern Freundin, heute vielleicht Grossmutter. So sagte ich mir: Jetzt gehst mal schauen, was sich so an den Hausmauern entlang tummelt und suchst dir selbst ein Geschenk aus. Doch als Weitergeschenkte ist es nicht so einfach, einen Platz auf der Zu-Beschenkenden-Liste zu kriegen."

Der grosse Mann räuspert sich plötzlich. "Ich auch", sagt er. Neugierig blicken ihn die Frauen an. "Ich war gestern ein so intensives Geschenk. Das hat mich ganz erschöpft. Heute will ich kein Geschenk mehr sein." Stille breitet sich aus zwischen den Dreien.

"Ihr könntet doch", bricht die Junge das Schweigen, "euch einander gegenseitig schenken." Die Alte lacht. "Das geht nicht, wenn der auch kein Geschenk mehr sein will." Sie schauen betreten zu Boden. 

Von der gegenüberliegenden Strassenseite ertönt ein freudiges Kreischen. "Einen Bruder!" Ein Mann löst die Schlaufe, die um den Oberschenkel eines anderen Mannes befestigt ist, und betrachtete sein Geschenk strahlend von allen Seiten.

"Ich habs.", sagt die Junge. Sie wendet sich zur Alten und zeigt auf den Grossen. "Klau ihn Dir." Die Alte erstarrt. "Klauen?" – "Ja. Geh ganz unauffällig an ihm vorbei und wenn er nicht hinschaut, schnappst Du ihn Dir. So ist er kein Geschenk, sondern ein Diebesgut. Dann, während Du glaubst, dass Du mit Deiner Beute davonschleichen kannst, klaut er heimlich Dich. So seid ihr beide auf eine etwas sonderbare Weise beschenkt, aber fühlt euch nicht als Geschenke." - "Das geht nicht", sagt der Grosse. "Das ist gesetzeswidrig." Die Alte nickt zustimmend. Die Junge schüttelt den Kopf. "Ihr vereinbart einen gegenseitigen Diebstahl, das ist nicht verboten." Die Alte und der Grosse denken nach.

Und je länger sie nachdenken über das Wer-Wen-Wem-Wie und ob überhaupt, desto komplizierter wird es, weshalb sie wieder ein nettes Geschenk sein werden. 

dezember 2012

Der kleine Unterschied

Carla kniet am Ufer des Teichs. Käferbrummen, Libellensurren, in der Ferne ein Specht und da! – ein leises Quaken. Sie hält den Atem an. Wie ein Peilsender beginnt ihr Ohr das Quaken zu verorten. Sie geht zur Stelle hinter dem Teich, schiebt die Grashalme zur Seite und steht Auge in Auge mit einem grünbraunen Frosch. Der Frosch blickt sie lange an. Ihr ist, als würde sich sein breites Maul zu einem Lächeln verziehen. Dann dreht er sich um und verschwindet im Gebüsch.

Wie Alfred, damals.

Carla öffnete die Tür einen Spalt breit und schlüpfte ins Zimmer. Mit der Hand dimmte sie das Licht der Taschenlampe. Eine Weile blieb sie stehen, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Bis auf die regelmässigen Atemgeräusche war es still. Max Himmelreich schien tief zu schlafen. Sie richtete kurz den Lichtschein auf sein Bett, bevor sie leise an das Bett von Alfred Grünigen trat. Es war leer. Mit den Fingern strich sie über die Matratze. Sie war noch warm. Carla bückte sich und leuchtete unter das Bett. „Alfred?“

Ein leises „Quak“ ertönte aus der Zimmerecke. Sie folgte dem Geräusch und fand Alfred zusammengekauert neben der Balkontüre. Sie setzte sich neben ihn. Er quakte weiter. Als sie ihn vor ein paar Monaten zum ersten Mal quaken hörte, hielt sie ihm einen Spiegel vor das Gesicht. „Sie sind ein Mensch.“ Alfred starrte mit weit geöffneten Augen in den Spiegel, quakte eindringlich und hüpfte aufgeregt durch das Zimmer. Tagsüber wirkte Alfred unauffällig, ging auf zwei Beinen, redete wenig und spaziert viel. Besuch hatte er nie. Nachts, meist ab 22 Uhr, schien er sich als Amphibie zu fühlen. Quakend hüpfte er durch den Raum, so lange, bis er entweder singen durfte oder geküsst wurde.

Den Kuss-Beweis lieferte Max Himmelreich. Eines Nachts verwechselte er Alfred mit seiner Frau, küsste ihn, worauf Alfred sein Quaken einstellte, etwas angewidert das Gesicht verzog, sich aufrichtete und sich ins Bett legte. 

Dass Alfred auch durch Singen entfroscht werden konnte, entdeckte Carla erst nach ein paar Nächten mühsamer Frosch-Jagd. In ihrer Verzweiflung holte sie ihre kleine Ukulele aus dem Schrank, setzte sich damit auf den Zimmerboden und sang ein Lied, in der Hoffnung, Alfred beruhigen zu können. Weniger beeindruckt von ihrem Gesang als von der Ukulele, sprang er auf Ihren Schoss, entriss ihr das Instrument, flüchtete in die Ecke und sang im schönsten Sopran:

Ich bin eine Amphibie, und keine beliebige: 
Ein Grasfrosch, vom Aussterben bedroht,
So hüpf ich einsam Richtung Abendrot.

Als würde Alfred aus einem Traum erwachen, hielt er plötzlich inne. Alles Froschige fiel von ihm ab, er richtete sich auf, legte die Ukulele sachte auf sein Nachttischchen, nickte Carla zu und ging ins Bett.

Von da an sang er jede Nacht eine Strophe und erzählte sein Leben als Frosch, von seinen abertausend Schwestern und Brüdern, allesamt aus demselben glibbrigen Laich entsprungen, die irgendwann ihre Schwänze abwarfen, um echte Frösche zu sein und ihr Glück ausserhalb des kleinen Tümpels zu suchen. Die meisten von ihnen liessen ihr Leben unter Autoreifen, in Kochtöpfen oder auf dem Experimentiertisch für die Grundlagenforschung.

Irgendwann gelangte Alfred zur letzten Strophe (einige wiederholte er immer wieder), doch statt sich danach wie bis anhin schweigend ins Bett zu legen, kniete er sich vor Carla auf den Boden und blickte sie eindringlich an. „Wissen Sie, Carla, der Unterschied zum Menschenleben ist vielleicht erschreckend klein.“ Carla hob überrascht die Augenbraue. Er überreichte ihr die Ukulele, stand auf, setzte seinen Hut auf und ging zur Tür. „Und wo wollen Sie hin?“, rief sie ihm zu, bevor er verschwand. Ihr schien, als würde sich sein Mund zu einem Lächeln verziehen. „Zurück zu meinem Tümpel.“

(Lied-Inhalt: Karnebel. Aus dem Leben eines Froschs) 

november 2012

Blackbox

„The only conceivable way of unveiling a black box, is to play with it" (René Thom)

Selines Spiel:

Flugzeug, Erinnerungskapsel, blinde Kuh, in einer Blackbox leben, den visuellen Sinn ausschalten, Kaaba in Mekka, der Schwarze Stein in der Box, aufsaugen, schwarzes Loch. Ein kleiner Schwall. Jetzt ist fertig.

(Blackbox)

Wobei ... richtig spannend wird es, wann man Kaaba wirklich als Blackbox betrachtet, mit dem Islam ... aber das führt zu weit. Jetzt bin ich wirklich fertig.

(Blackbox)

Also, wenn ich zu meinem Erstaunen eine Blackbox auf dem Hals vorfinden würde, dann wäre mir nicht wohl. Quadratische Sachen haben keine wirklich organische Form. Selbst kristalline Formen ... also, eine Kiste ist ja durch und durch kulturell. Sie nimmt mir mein Gesicht, und sowieso - hätte ich eine Blackbox auf dem Hals, ich würde in Panik geraten, sie „abmechen“ wollen.

Andere hätte dann wohl auch so ein Ding auf dem Hals. Mit ihnen könnte ich die Blackboxen zusammenstecken. Das gäbe einen Blackbox-Pool: Zusammengelegte Erinnerungen. Die Hände wären plötzlich viel wichtiger.

Einfacher wäre es, das Herz durch eine Blackbox zu ersetzen. Das erfüllt die Speicherfunktion besser, ist mehr abgegrenzt. Man kann es nicht abhören. Der Kopf ist viel durchlässiger. Oder wenn die Blackbox den Bauch ersetzte, dann wäre es plötzlich so schwer im Magen. Vielleicht hätten auch Tiere eine Blackbox oder Bäume trügen kleine Blackböxli statt Kirschen. Man könnte sich schmücken mit Blackboxen.

Ich frage mich schon, ob der 90°-Winkel, eh ... Ein Kubikmeter – wenn man den mit Wasser füllt, wiegt er eine Tonne. Krass, oder?

Anyway ... Man könnte sich auch schmücken damit. Dann stellt sich die Frage wegen dem ganzen Schwarz. Königin Victoria – als Ihr Prinz Albert starb – er starb so früh und sie liebte ihn so heiss - gab es haufenweise schwarzen Schmuck. Aus Jett machte man diesen Schmuck. Schwarz, weil man traurig ist, dass plötzlich alles nur noch Erinnerung ist. Weiss ist ja in unserer Kultur positiv, aber Schwarz weiss ich nicht. Vielleicht nicht traurig, aber ernst.

Ich bin weggekommen vom Würfel. Wir könnten mit unseren Blackboxen Würfelspiele machen. Man wüsste auch nie wer gewinnt, weil alles schwarz ist um uns herum. Wie ein Raum. Die Blackbox als Raum, damit die zukünftige Zivilisation dann mal weiss, was da mal war. 

Das hast Du jetzt davon, jetzt wird es richtig absurd.

Ah, eine Musikbox! Schwarz absorbiert ja. Was, wenn es nicht mehr nur absorbieren, sondern auch reflektieren würde? Die weisse Innenschicht, die nach aussen refklektiert. Wie eine Musikbox – alles wiedergeben. Wenn ein Haus eine Blackbox wäre, dann hätten die Wände eben doch Ohren. Das wäre wirklich so – ja. Und an den Aussenwänden wären die Lippen. Sie würden alles erzählen. Und eine Zunge. Dann kannst Du Dir zum Abschied noch gleich ein „Schmätzli“ holen. Das ist übrigens auch schön, wenn man heimkommt.

(Blackbox)

Nein, unser Kopf kann keine Backbox sein, weil er immer alles rauslabern muss. Vielleicht funktioniert es doch besser mit dem Herz, oder komme ich noch weiter auf meiner Reise?

(Blackbox)

Sie bedeutet eben doch auch immer ein bisschen Gefahr, diese Blackbox.  Secret, huuuh, etwas Mysteriöses. Bleibt es drin, oder geht es raus? Plötzlich wäre da überall die absolute Wahrheit. Stell Dir vor, selbst die Ohrringe würden plötzlich die Wahrheit erzählen.

Aber ... ich bin versandet.

(Blackbox / Seline trägt keine Ohrringe)

Now then dear friend, let’s play together.

oktober 2012 

Die Geschichte, die auf keinen Fall von Würmern und Frieden handeln sollte

Es war ein sehr langes Geschäft, wie er es nicht erwartet hätte, bei dem nicht nur all sein verdauter und unverdauter Ballast hinausbefördert wurde, sondern auch gleich das ganze Eingeweide und alles Darüberliegende, was ihn zunächst erschreckte, weil er nicht wusste, was er denn als hohle Gestalt noch auszurichten hätte auf dieser Welt, doch ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, wurde dieser mitsamt der Hirnwindung, in die er eingepfercht war, wegrationalisiert, und übrig blieb nichts.

Bis auf das, wovon die Geschichte auf keinen Fall handeln sollte.

oktober 2012 

Hamstern

Sie sassen nebeneinander auf einem Ast – einem dicken Ast, weil sie schon etwas untersetzt waren – hoch oben im Baum, und pflückten Kirschen. Othmar trug dunkelbraune Lederschuhe, Martin grüne Gummistiefel. Othmar hat sich gewundert über die Gummistiefel seines Freundes, wenn sie sich doch nicht im Sumpf trafen wie sonst, sondern im Gegenteil, in erhabener Höhe, knapp unterhalb der Baumkrone, nicht weit entfernt von der nächsten Wolke, und wenn doch ihre Beine nur in der Luft baumelten. Die Luft war trocken, die relative Luftfeuchtigkeit an diesem Tag kaum der Rede wert. Er erwähnte die Feuchtigkeit nur wegen der Gummistiefel, was Martin mit einem gleichgültigen „Ja nu.“ kommentierte. Mehr sagte er nicht. Er war auch sonst, unabhängig von der Höhe ihres Begegnungsortes, ein stiller, zufriedener Mensch, der mit Vorliebe nicht redete, und je älter er wurde, desto weniger Wörter brauchte er pro Tag. Othmar störte sich nicht daran. Er konnte dann erzählen von früher, wie er unterwegs war mit seinem kleinen weissen Citroen, die Messgeräte im Gepäck, immer der aktuellen Luftfeuchtigkeit auf der Spur.

Heute mochte aber auch Othmar nicht viel reden. Er musste Balance halten, damit er nicht vornüber oder hinterrücks vom Ast fiel. Da kam ihm die Hamster-Idee. „Da wir stiller sind als sonst und das wichtigste schon gesagt ist, könnten wir heute Kräfte messen.“ Martin blickte ihn fragend an. „Wir essen so viele Kirschen wie möglich, ohne die Steine auszuspucken oder runterzuschlucken. Wer am Ende mehr Kirschsteine im Mund hat – die zählen wir dann – der kriegt vom anderen ein Bier.“ Martin strich sich gelangweilt eine weisse Haarsträhne aus den Augen. „Immer messen, zählen, rechnen. Können wir nicht einfach Kirschen essen? Ich bezahle das Bier ja sowieso.“ – „Komm schon, Martin. Heute machen wir es so. Das nächste Mal bestimmst Du dann wieder.“ Martin willigte schliesslich ein und freute sich auf die halbe Stunde Stille. Und heimlich auch ein bisschen auf das Kräftemessen.

So assen sie Kirsche um Kirsche, je voller der Mund, desto langsamer wurden sie, feine rötlich gefärbte Speichelfäden rannen ihnen aus den Mundwinkeln über das Kinn, die Backen plusterten sich auf. So allmählich hatte Othmar etwas Mühe mit dem Atmen, aber er sah, wie Martin die nächste Kirsche in den Mund steckte. Nach einer halben Stunde brachten weder Othmar noch Martin eine Kirsche mehr in den Mund. Sie nickten und spuckten die gesammelten Steine fast gleichzeitig in die Hand. Wie sie das ausgespuckte Gut nun zählen sollten, wussten sie nicht so recht, da sie beide eine Hand brauchten, um sich festzuhalten, die dann fehlte, um die Kirschsteine zu zählen. Ein bisschen unangenehm war für Martin das Bauchweh, das ihn plötzlich befiel, und Othmar kämpfte noch immer mit der Atmung und länger schon mit der Prostata. 

So sassen sie nebeneinander auf dem dicken Ast, jeder eine Hand voll Kirschsteine und mit verschiedenen Bedürfnissen. Ihre Beine baumelten durch die trockene Luft.

september 2012 

Die unspektakuläre Biografie eines Monsters im Schnelldurchlauf

Es ging alles ganz schnell und unkompliziert. Seine Mutter, Marie Isabelle Antoinette de Salubrité, gebar ihr Kind an einem warmen Frühsommertag, abends um 22 Uhr, gerade dann, als die Sterne am Himmel angingen.

Das Kind – ein Bub – kam, schnappte kurz nach Luft, stiess einen einzelnen Schrei aus, bevor es die Hebamme zum Erstaunen aller Anwesenden freundlich anlächelte. Es schien gar, als würde es ihr zunicken, was man im Raum als „gut gemacht“ deutete. Die Hebamme blickte das Kind erstaunt und etwas verlegen an, drehte es in ihren Händen und betrachtete die aussergewöhnliche, einzelne Locke, die der Bub auf dem Kopf trug. „Ein Stern“, murmelte sie dem Kind zu.

Die Mutter – eine frisch in die Schweiz immigrierte Französin – verstand kein Wort. „Une étoile!“ übersetzte die Hebamme, „une étoile, une étoile, une étoile!“ Sie sang die Worte und schwang dazu das Kind durch die Luft.

„Mais non, alors, ça ne va pas!“ zischte die Mutter plötzlich. Alle wurden still. Marie Isabelle Antoinette de Salubrité kletterte aus dem Bett und riss der Hebamme das Kind aus den Armen. Man könne ihrem Sohn nicht einen Namen mit weiblichem Artikel geben. Ein schlechtes Omen sei das. Ihr Kind werde eine grammatikalische Störung entwickeln und unter Gefühlsduselei leiden. Da sie aber auch den Eindruck hatte, dass sie soeben einen Stern geboren hatte, und sie eine bilingue Erziehung anstrebte, entschied sie sich für eine Kombination aus Französisch und Deutsch, nannte ihren Sohn „Mon-Stern“ und brachte damit neben ihren vielseitigen Sprachkenntnissen auch unmissverständlich ihren Besitzanspruch zum Ausdruck. Der Vater, nicht minder puristisch als seine Gattin, konnte sich mit dem „n“ am Ende des Namens nicht anfreunden. Das würde – so meinte er – den Eindruck eines Verbs erzeugen, als würde das Kind in irgendeiner Form „monstern“. Der Bub werde als Verb nicht die für das Leben dringend benötigte Gelassenheit erlangen. Er bestand auf ein Hauptwort. Da aber weder Marie Isabelle Antoinette de Salubrité noch der Vater von der Stern-Idee absehen wollten, entschieden sie sich, das „n“ wegzulassen. „Mon-Ster“ hiess der Bub nun also. Unwiderruflich.

Die unangenehmen Folgen dieser sprachbewussten Namensfindung lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Mon-Ster wurde sich eines Tages beim Fernsehgucken über die Bedeutung seines Namens bewusst, verstand dann plötzlich, warum die Nachbarskinder zitterten, blass wurden oder schrien, sobald er vor die Haustüre trat, begriff auch, warum die Kindergärtnerin jeden Morgen den Raum mit Monster-Spray besprühte, beobachtete später mit zunehmender Unruhe die sinkenden Einwohnerzahlen in der Stadt, schloss sich ein, als er las, dass eine Sonderermittlungseinheit der Polizei auf der Suche nach einem Monster war, fühlte sich zunehmend beobachtet und verfolgt, vermutete an jeder Ecke einen Spion, verbarrikadierte sich in der Wohnung, bis er schliesslich resigniert die Kammerjägerin (nach allen anderen Dienststellen) zu sich ins Haus bestellte, in der Annahme, dass Monster in die Kategorie Schädlinge fallen.

Für die angenehmen Folgen braucht es ein paar Sätze mehr: Mon-Ster öffnete der Kammerjägerin die Tür und brachte stockend sein Anliegen hervor: „Bekämpfen Sie mich.“ Die Kammerjägerin verstand weder den Zusammenhang zwischen Schädling und Monster noch zwischen Monster und Mon-Ster. So setzten sie sich an den Tisch, wo eine schier endlose Rekonstruktion der Mon-Ster-Geschichte begann, bis die Frau irgendwann erschöpft fragte: „Warum heissen Sie überhaupt so?“ Er: „Gute Frage.“

Die Frage richteten sie sogleich an Marie Isabelle Antoinette de Salubrité, die ihres Alters wegen etwas Mühe hatte mit der Erinnerung, worauf sie den Mann ans Telefon holte, der nur eines sagte: „Du bist kein Verb!“. Das letzte Wort überliess er seiner Frau, die zum Abschied in den Hörer flüsterte: „Komm mich besuchen, mon Stern“, und somit unwissentlich die gewünschte Antwort bot.

„Aha“, sagte die Kammerjägerin. „Aha“, sagte Mon-Ster. Plötzlich entspannte sich die Welt, und weil es gerade passt, gingen in diesem Moment am Himmel die Sterne an.

juli 2012 

glück

wenn die sonne scheint und du sonnencrème für die glatze zur hand hast.

verstand

wenn es an all deine türen gleichzeitig klopft und du durch den vorhang das weite suchst.

pech

wenn du türen ab-dichten willst und deine worte nicht greifen.

april 2012

Das unpassende Ende

Du sitzt auf einem Grashalm,
den Wind in Deinem Rücken,
breitest Deine Flügel aus,
ohne von der Stelle zu rücken,
 
links und rechts und hinter Dir,
sitzt ein Deinesgleichen,
breitet seine Flügel aus,
ohne von Deiner Seite zu weichen.
 
Sie sieht Dich dort, irgendwann,
im Glanze Deiner Farben,
komm flieg mit mir, ruft sie Dir zu,
und sieht dann erst die Narben.
 
So setzt sie sanft zur Landung an
und sagt, Du bist verletzt,
da nimmst Du einen Stock hervor,
mit dem Du ihr den Schlag versetzt.
 
Seither sitzt sie nicht weit von Dir,
den Wind in ihrem Rücken,
breitet ihre Flügel aus,
...

und fliegt davon. 

März 2012

Perspektivenwechsel

Was ist, wenn es nicht den Redenden an Worten fehlt, sondern den Worten an Redenden? 

Februar 2012

 Jetzt sage ich etwas

Er schiebt den Tisch zur Tür, geht um den Tisch herum, also eigentlich geht er unter ihm hindurch, weil der Tisch die Breite des Türrahmens füllt, er hebt ihn auf der einen Seite leicht an, damit er ihn über die Schwelle bringt, geht wieder um den Tisch herum (also wieder unten durch), hebt auch diese Seite leicht an, und schiebt den Tisch über die Schwelle in den Flur.

Es folgen der braune Hocker aus Israel, die schwarzsilberne Bogenstehlampe, der Plattenspieler, – der eigentlich seiner Frau gehört, die aber nie Schallplatten hörte, sondern sich den Spieler nur der Nostalgie wegen gekauft hatte und ein bisschen auch wegen des kleinen Stachels, den sie auf der Platte nach Belieben neu ansetzen konnte –, dann der Bettrost, den er schon seit zwanzig Jahren ersetzen wollte und es aus Bequemlichkeit doch nicht tat, und durch den er (sofern der Rost aufgerichtet ist) die Welt quergestreift sieht. Dann die „kleineren“ Sachen: Bücher, Schallplatten, eine nie benutzte Mausefalle, den eingerollten Teppich, er hängt sogar Magrittes Apfel-Bild ab, unter welchem er zu seinem Erstaunen eine mit Bleistift hingekritzelte Nachricht seiner Frau findet: „Nimm Du den ersten Bissen, ich folge Dir.“ Über diesen Satz denkt er noch lange – leicht schaudernd - nach, während sich das Ausgeräumte im Flur allmählich bis unter die Decke türmt.

Zuletzt steht er in einem leeren Raum. Er blickt sich um.

Unter dem Ofen auf dem Fussboden findet er es schliesslich: das Streichholzbriefchen. Er denkt „Das Briefchen“ und „Jetzt sage ich etwas.“ Er klebt eine Briefmarke drauf und legt es vor dem Fenster auf den Sims für die Flugpost.

Dann räumt er den Raum wieder ein.

Februar 2012


Leichtfüssig

Hier ist es schön, so hell, die wärmende Lampe über dem Gesicht, ich schliesse meine Augen, weisse Punkte fliegen vorbei, im Hintergrund leise Musik, ab und zu sagt er etwas mit sanfter Stimme, manchmal ist es eine Frage, ich nuschle ein paar Worte, sabbere dazu, der Speichel tropft auf den Papierlatz, Schläuche über meinem Kopf wie ein Mobile, ich müsste nur die Hände ausstrecken und könnte sie berühren, das mache ich nicht, liege einfach nur da, sein Gesicht so nah an meinem, ein Gemisch aus Haut und Gummi einatmen, er greift mit einem Finger in meinen Mund, ich will beissen, spüre keine Zähne, weiss nicht, ob ich noch oder schon welche habe, ein Gerät taucht vor meinen Augen auf, verschwindet da, wo der Finger zuvor war, macht rhythmisch bohrende Geräusche, ich bin so unverwundbar, schwerelos, selbst ein Presslufthammer könnte mir nichts anhaben, dann ist sie weg, die Weisheit, als wäre sie ganz leichtfüssig aus mir hinaus- und davonspaziert. Als wäre sie nie dagewesen.

januar 2012

Über Perlen und Pailletten

Ganz zartbeleibt sass ein junger Mann in der vordersten Reihe, 25, vielleicht jünger, mit einem schmalen Gesicht, die Haare schwarz und glanzlos. Der verwaschene weisse Pulli war ihm zu gross, so auch der Stuhl, auf dem er bewegungslos sass. Er rührte sich selbst dann nicht, als der Applaus über seinen Kopf hinweg schwappte und seinen Bruder auf der Bühne wie warmes Wasser umspülte. Sein Blick aus wässrigen Augen war auf die schwarzen Schuhe vor ihm gerichtet. Von den Spitzen bis zu den Fersen waren sie geschmückt mit glänzenden Pailletten, die bei jedem Fersen-Klacken leise klirrten. Sieben Tage lang hatte er Paillette für Paillette angenäht. „Warum tust Du das“, hatte ihn Maria gefragt. Maria, sein Mädchen. Er zögerte nicht mit der Antwort. „Weil ich ihn liebe.“ Maria schüttelte den Kopf.

Der Mann, der in den Schuhen steckte, war alles andere als zartbeleibt. Alles an ihm war präzis und deutlich vorhanden. Die Bewegung seiner Füsse (das kurze Fersen-Klacken zum Auftakt) setzte sich fort durch seine angespannten Waden, durch die Oberschenkel in den aufgerichteten Oberkörper. Das Kinn gegen die Decke gerichtet gab er den Blick frei auf seine pulsierenden Halsadern. Seine Augen rollten hinter den halbgeschlossenen Lidern im Takt der klar geführten Bogenstriche. Einzig seine Finger wollten nicht zur Gesamterscheinung passen, so kurz und dünn wie Kinderfinger, die in erwachsener Manier über die Saiten turnten. Sein Schnaufen nach jeder Phrase zischte durch den Saal und pflügte eine Schneise in die Melodie, die sich wie eine hüpfende Tondecke über den Köpfen der Zuschauer bewegte. Kaum setzte der Applaus ein, sprang er wie eine Feder vom Stuhl hoch, breitete seine Arme aus, das Violoncello in der linken, den Bogen in der rechten Hand, die Augen geschlossen, nur ab und zu öffneten sie sich leicht und blieben für den Bruchteil einer Sekunde auf dem schmalen Gesicht in der ersten Reihe haften.

Das wusste er, der Jüngling, darum hielt er seinen Kopf weiterhin gesenkt. Kein einziges Konzert seines Bruders hatte er bis jetzt ausgelassen, keinen Ton verpasst, er kannte alle Paganini-Stücke auswendig, jede einzelne Fingerbewegung, die Hüpfer, das Rutschen und Gleiten, er wusste, wo die Schnaufer einsetzten, wo die Fersen klackten und manchmal, wenn sein Bruder das Cello für einen kurzen Moment durch eine Frau ersetzte, schlich er in das Musikzimmer und spielte. Er stellte sich vor, wie er paillettenbesetzte Schuhe trug, sich die Kleider wie eine zweite Haut um seinen Körper spannten, sich der Applaus im Saal ausbreitete, der Boden von den stampfenden Füssen bebte, und wie in der vordersten Reihe sein Mädchen sass, das nicht klatschte, nur versunken vor sich hinträumte und wie eine Perle der verklungenen Melodie hinterherrollte. Er stellte sich vor, wie er von der Bühne stieg, diese Perle an der Hand nahm, wie sie zusammen zu seinem Boot gingen und endlich aus den Windungen der Kanäle hinaus ins offene Meer segelten, so weit, bis kein Ton seines Bruders ihn mehr einholte.

Das Konzert neigte sich dem Ende zu. Der Jüngling hielt den Blick noch immer gesenkt. Der Bruder auf der Bühne verbeugte sich abermals. Eine Frau überreichte ihm eine Rose, lächelte und rückte sich so schön ins Licht, dass sie wahrlich glänzte, was der Bruder nicht sehen konnte, höchstens erahnen, so beachtete er sie denn auch nicht, nahm die Rose, setzte sich wieder hin und wartete. Der Saal leerte sich, nur Maria sass zuhinterst im Saal. Das Licht wurde gedimmt.

„Bist Du noch da?“, flüsterte der Bruder. Der Jüngling liess seinen Blick über den Mann auf der Bühne gleiten. Alles Deutliche und Präzise war weg. Zurück blieb eine eingesunkene Gestalt. Ich könnte ihn da sitzen lassen, ging ihm durch den Kopf. Er stand auf, zögerte einen Moment, trat schliesslich auf seinen Bruder zu und berührte ihn sanft an der Schulter. „Nach Hause“, fragte der Jüngling und griff nach dem Arm seines Bruders. „Nein“, der Bruder blieb sitzen. „Wie sieht Dein Mädchen aus?“ Der Jüngling drehte kurz den Kopf zu Maria, überlegte eine Weile und zuckte die Schultern. „Schwer zu beschreiben. Wie ein Streichholz, das jederzeit entbrennen könnte, in ihren Augen spiegeln sich Schaumkrönchen des Meeres, sie ist zart, wie ein Perle. Man möchte sie sofort in die Muschel zurückschieben und die Muschel gut verschliessen.“ Nach einer Weile des Schweigens räusperte sich der ältere. „Warum bist Du da?“ - „Du siehst nichts.“ Der Bruder schüttelte den Kopf. „Du siehst noch weniger als ich.“ Wütend klangen die Worte. Oder müde. Er stand auf, griff nach seinem Cello und ging der Wand entlang Richtung Ausgang. Nach ein paar Metern blieb er stehen und drehte sich um. „Der Wind ist gut, Bruder.“ 

Weihnachten 2011 

Das dritte Bein

Es geschah nichts Aussergewöhnliches am Abend zuvor, sie lagen im Bett, seine Beine der Hitze wegen unverdeckt und angewinkelt als Stütze für das Buch, ihre Beine auch unverdeckt, aber ausgestreckt, lange Beine, das rechte etwas kürzer als das linke, was man nicht sah, nur wusste, so oder so waren sie beide lang und schön, mit kleinen blauen Flüssen, die unverästelt durch die milchweisse Landschaft zogen, da und dort ein feines Härchen, das sich den Klemmrädchen des Epilierers entzogen hatte, ganz fein, kaum sichtbar, aber er trug ja die Brille wegen des Buches, das auf seinem rechten Knie lag und die Hälfte seiner langen Narbe verdeckte, die sich mitten über seine Kniescheibe zog, als wolle sie sein Bein entzwei teilen, was möglich wäre, denn es war breit genug und kurz und warm, wie ihre Beine auch, das spürte er, als sie das Licht löschten, einschliefen, sein linkes an ihrem rechten Bein, wie immer, nichts Aussergewöhnliches, bis dann eben der Morgen kam, ihr Schrei, das Gefühl, etwas sei ganz und gar anders da unten, der Blick unter die Decke, sein Schrei, drei Beine, keines gleich dem anderen, ein linkes, lang, mit blauen Flüssen, ein rechtes, kurz, mit einer Narbe und ein drittes in der Mitte, das fremd wirkte, so unbehaart, unvernarbt, aber stabil, wie es schien, und sich bewegen liess, von ihm, von ihr, nur nicht von beiden gleichzeitig.

Was jetzt, fragte sie, keine Ahnung, sagte er, zusammen ging gar nichts mehr, wollte er zwei Beine, hatte sie nur noch eins und umgekehrt, halbieren liess sich das dritte Bein nicht, so waren sie zuerst höflich miteinander, mit Worten, Liebste ich fühle mich dir sehr verbunden, oder so ähnlich, bis irgendwann alles Nette von ihnen abfiel, vielleicht wegen der Rückenschmerzen vom ewigen Liegen, und der Kampf um das dritte Bein zwischen ihnen entbrannte, der ihre egoistischsten Seiten zu Tage förderte, weil einfach klar war, wenn einer ging, blieb der andere auf der Strecke, und keiner wollte der andere sein, warum sie unerbittlich waren, bis sie müde wurden und sich ein rationales Argument durchsetzte, nämlich dieses, dass lange Beine weiter kommen als kurze, woraufhin sie sich das Bein nahm und ging.

Dezember 2011

Wurst im Zug Biel-Bern

„Ist schon praktisch, so ein GA, hä?“ – „Jaa.“ – „ Da kann man einfach einsteigen und aussteigen. Das ist praktisch, hä?“ – „Mhmm.“ – „Hui, ist das schon dunkel, hä?“ – „Mhm.“ – „Uh, schau die schönen Türen .. um die Türen .. die Lichter. Die Lichter sind schön, hä?“ – „Mhm.“ – „Die Rieblis haben es schön in Biel.“ – „Mhm.“ – „Da könnte ich auch wohnen. Du könntest da auch wohnen, hä? – „Jaa.“ – „Es regnet.“ –„Mhm.“ – „Es sollte zwei Tage lang Bindefäden regnen. Gerade runter, hä?“ – „Bevor es gefriert.“ – „Es regnet wenig.“ – „Mhm.“ – „Die haben es gut in Biel, hä?“ –„Mhm.“ – „Sie hat gesagt, er dürfe nicht im Telefonbuch stehen. Wegen dem Beruf. Was ist der denn? Etwa Militär?“ – „Eh ja also!“ –  „Der Regen ist draussen an den Scheiben.“ – „...“ – „Es regnet an die Scheiben draussen.“ – „Mhm.“ – „Uh schau, das sind denn schöne Lichter. Das sind ganz schöne Lichter da am Bahnhof.“ – „Ja.“ – „Im Bernbahhnof ist es dunkel.“ – „Wo ist es dunkel?“ – „Auf den Gleisen.“ – „Jetzt haben sie gerade erst neue Lichter raufgemacht vor ein paar Jahren, also.“ – „Es ist immer noch dunkel. Zollikofen ist hell. Da hat es viele schöne Lichter, hä?“ – „Eh jaa.“ – „Die hat es wohl schwer, die Marie, sieht müde aus, hä?“ – „Mhm.“ – „Hat es aber auch schwer. Der Mann gestorben, der Freund gestorben, der Bruder gestorben, die Eltern gestorben. Der ist ja alles gestorben!“ – „Jaa, also.“ -  „Du fährst nie mit dem Zug. Darum ist es für Dich dunkel.“ (...) (Aufgezeichnet, 2. Dezember 2011 /Namen geändert)

Weib, manchmal scheints mir, als wären Du und ich eine einzige Wurst: Das eine Ende zugeknöpft, aus dem anderen quillts in Strängen raus und ersäuft uns Stück für Stück. Aber wir sind eine Wurst, Du und ich.

 november 2011

Kuh, du

Kuh, du Gefürchtete, du,

mit deinen 700 Kilo, mächtig,
die Hungergrube, wie ein Tal zuerst,
bläht sich auf, Stück für Stück,

der schlagende Schwanz an einer Schnur,
jeden Tag Punkt 6 und 17 Uhr,
straft deinen milden Blick Lügen,

reden, streicheln, überall,
die Wärme zwischen Euter und Bein,
da wollen unsere Hände sein,

die Zitzen reiben, sachte ziehen, drücken,
etwas näher rücken, pressen,
die Kunst begreifen,

ein Tropfen oder mehr,
dein Kontingent für Fremde,
gibt keinen Macchiato her,

Kuh, du Gute, du,

unsere Wangen an deinem Bauch,
ein Weilchen noch, bitte,
versinken in deinem Fell,

schwarzweiss führst du unsere Gedanken irr,
nach Freiburg statt nach Kanada,
Immigrant als Milchlieferant,

für Schweizer Käse,

Kuh, du.

(november 2011)

Kuh, du Kuh, du Gefürchtete, du, mit deinen 700 Kilo, mächtig, die Hungergrube, wie ein Tal zuerst, bläht sich auf, Stück für Stück, der schlagende Schwanz an einer Schnur, jeden Tag Punkt 6 und 17 Uhr, straft deinen milden Blick Lügen, reden, streicheln, überall, die Wärme zwischen Euter und Bein, da wollen unsere Hände sein, die Zitzen reiben, sachte ziehen, drücken, etwas näher rücken, pressen, die Kunst begreifen, ein Tropfen oder mehr, dein Kontingent für Fremde, gibt keinen Macchiato her, Kuh, du Gute, du,  unsere Wangen an deinem Bauch, ein Weilchen noch, bitte, versinken in deinem Fell, schwarzweiss führst du unsere Gedanken irr, nach Freiburg statt nach Kanada, Immigrant als Milchlieferant, für Schweizer Käse, Kuh, du.

Voilà

Gartencenter. 2 kg Universalrasen PRO, regenerationsfähig für Hausgarten, ummanteltes Saatgut, 39 CHF. Erde jäten, von Hand. Hacken. Umstechen. Rechen. Warten. Nochmals umstechen. Rechen. Ebnen. Mit Wasserwaage testen. Samen streuen, locker, von aussen nach innen. Samen einstampfen. Fuss neben Fuss. Schwitzen. Bewässern, mit Spritzdüse, sachte. Netz spannen wegen Raben, die frechen. Bewässern. Warten. Samen keimen. Bewässern, Netz weg. Rasen spriesst. Bewässern. Rasen wuchert. Mähen. Sichel statt Motor. Ganz weich. Kurz Wange auf geschnittenen Rasen drücken. Sich freuen. Bewässern. Abmessen. 2x2 m. Vier Löcher mit Erdlochbohrer. 30 cm. Ikea-Wolldecke, Marke Eivor, 29.95 CHF. Auf Rasen ausbreiten. Glatt streichen. Zwei Daunenkissen. Locker auf Decke verteilen. Ein bisschen wild und zufällig. Vier Holzstöcke, je 2.5 m. In Löcher stecken. Ein altes Leinentuch als Baldachin. Jede Ecke an Stock festbinden. Doppelknoten. Romantisch. Voilà.

(Oktober 2011)

ticken

Es tickte. Das Ticken störte ihn. Er (E.) ging in einen Uhrenladen.

„Es tickt.“ Er zeigt auf seine Uhr. „Das Ticken stört mich.“

„Geben Sie her“, sagte die Uhrfrau (U.) und hielt die Uhr an ihr Ohr.

Sie nickte. „Es tickt.“

„Was nun?“

„Digital.“ U. reichte ihm eine gelbe Armbanduhr. „Versuchen Sie es damit.“

E. legte sie um sein linkes Handgelenk und lauschte. „Es tickt immer noch.“

Sie runzelte die Stirn. „Stimmt. Es tickt.“

„Das will ich nicht.“

„Verständlich. Ich auch nicht.“ Sie entfernte die Batterie, lächelte ihn an. „So.“

„Das ist nett von Ihnen. Aber es tickt immer noch.“

Ungläubig nahm U. die Uhr entgegen. „Seltsam. Sie tickt wirklich.“

„Vielleicht kommt es von da. Oder dort.“ Er zeigte auf die ausgestellten Exemplare in den Schaukästen. Seine Hände zitterten leicht.

„Meinen Sie?“ Sie ging zum Schaukasten und hielt ihr Ohr an die Glasplatte.

„Sie erbleichen“, sagte E. „Was hören Sie?“

„Es tickt.“

„Ohgott.“

„Ja.“ Sie holte den Schlüssel, sperrte die Schaukästen auf und begann die Batterien zu entfernen. „Helfen Sie mir. Ich von links, Sie von rechts.“

Sie arbeiteten sich von Kasten zu Kasten. Bei der zweihundertundsechsten Uhr kam der Abteilungsleiter (A.) herbeigeeilt. „Was ist los?“

„Es tickt“, sagten E. und U., ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

„Seien Sie mal still.“ A. erstarrte, die Augen weit aufgerissen. „Sie haben Recht“, flüsterte er, rannte zum Telefon. „Es tickt“, bellte er in den Hörer.

„Los! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Batterien raus!“ E., U. und A. arbeiteten sich hektisch von Uhr zu Uhr, umgeben von einer immer grösser werdenden Schar verwirrter Passanten (P.). Die einen nahmen ihre Uhr vom Handgelenk und entfernten die Batterie. Andere rannten wie gefangene Tiere hin und her. Nochmals andere riefen jemanden an, „es tickt!“, aber liessen ihre Mobiltelefone fallen wie eine heisse Kartoffel, als sie sich der integrierten Uhr bewusst wurden. Der Ladenbesitzer (L.) kam mit eiligen Schritten daher, gefolgt von einem Trupp Sicherheitsbeauftragter (S.). „Verehrte P.“, sprach L. in ein Mikrofon, „legen Sie Ihre Uhren ab und verlassen Sie den Laden, walkend und nicht rennend. Die S. weisen Ihnen den Weg zum Ausgang.“ L. schwitzte. Krawatte schief, Wangen gerötet. „Mein Herz“, stöhnte er plötzlich. E. drehte sich um. „Was ist damit?“ L. lehnte sich an die Wand. „Es tickt.“ Kaum ausgesprochen, wurde er vom Rettungsdients (R.) auf eine Bahre gelegt und davongetragen.

Als bei der letzten Uhr die Batterie draussen war und es immer noch tickte, entschied A., stellvertretend für L., das Gebäude zu zerstören. Bagger und Kräne (B&K) wurden beordert, die Fassaden niedergerissen. Der Laden war weg. Übrig blieb eine Staubwolke.

E. und U. setzten sich in die Staubwolke und warteten, bis alle weg waren.

„Und jetzt – tickt es noch?“ U. schaute E. gebannt an.

Er hielt die kleine, gelbe Uhr an sein Ohr, sagte eine Weile nichts. Die Augen zu.

„Hören Sie selbst.“ E. rückte mit der Uhr am Ohr näher an Us Ohr heran.

Sie lauschten.

(Oktober 2011)

Haubentaucher

„Was möchtest Du wissen?“ Sie denkt nach und zuckt mit den Schultern. Schweigend gehen sie weiter.

Die Sonne steht hoch am Himmel, drei Zwergschwäne fliegen in einer Reihe mit trägen Flügelschlägen über den See Richtung Osten. Nur ein paar Zentimeter zwischen ihrem weissen Gefieder und der Wasseroberfläche. Das Ufer liegt im Schatten des Waldes. Alle paar Meter versperren entwurzelte Bäume den Weg und tauchen ihre Äste in den See wie Verdurstende.

Langsam bahnen sie ihren Weg durch das Geäst zur nächsten Landzunge, hinter welcher sie einen Sonnenplatz vermuten. Mal er voran, mal sie. Ihre regelmässigen Schritte im Kies verweben sich allmählich zu einer Melodie.

Der einzige Weg in die Sonne führt über einen steil abfallenden Baustamm. Vorsichtig balancieren sie über die feuchte Rinde. Als er ihr die Hand reicht, schüttelt sie den Kopf. Sie setzen sich ans Wasser. In die Nähe des Schilfes. Sonnenstrahlen auf ihrer von der Oktoberluft abgekühlten Haut.

Die Worte gleiten ruhig zwischen ihnen hin und her wie das Segelboot in der Ferne. Ab und zu wendet sich das Gespräch einem neuen Ziel zu. Locker im Zickzack.

„Und Du“, fragt sie ihn plötzlich, „was möchtest Du wissen?“ Er dreht sich eine Zigarette, befeuchtet mit der Zungenspitze zuerst das Papier, dann seine Lippen. Nach einem tiefen Zug legt er seine Hand in die ihre. Vor ihnen fischt ein Haubentaucher nach Nahrung. Sobald er auftaucht, schüttelt er sein steil abstehendes schwarzes Häubchen trocken. „Wie lange er es wohl in der Tiefe aushält?“ Sie stoppen die Zeit, als der Taucher erneut in die Tiefe sticht.

Der Vogel taucht nicht mehr auf. Sie lassen die Uhr weiterlaufen.

(Oktober 2011)

Bis ihr einfiel

Beim Versuch, sich weiterzuentwickeln,

verlor sie irgendwie den Faden,

was sie bekümmerte,

bis ihr einfiel,

dass Raupen dasselbe Schicksal widerfährt.

(September 2011)

Glühbirne

Du sitzt an Deinem Arbeitsplatz in Deinem Zimmer. Es ist fast leer. Umzug, hast Du gesagt. Von hier nach dort. Ein paar Meter ins andere Zimmer. Der Schreibtisch ist lang. So lang fast wie ein Bett und noch ein halbes dazu. In weisser Farbe. Oder war er braun? Du sitzt dort, streichst Dir Dein Haar hinter die Ohren. Es ist so lang, dass Du es zu einem Knoten bindest. Immer? Das hintere Ende Deines Bleistifts auf Deiner Unterlippe. Es liegt dort wie zufällig. Vor Dir die Wand. Zugeklebt mit Texten und Skizzen, vielleicht mit System. Das kennst nur Du. Du scheinst manchmal so. Als hättest Du ein System, das niemand versteht. Warum die Nähmaschine neben Dir?

Du liest die Worte über die Frau, die von irgendwoher kommt und irgendwohin geht. Neben Bleistiftstrichen. Wenn Du Deinen Kopf ganz leicht nach rechts neigst, rückt die Nähmaschine ein bisschen mehr nach links in Dein Blickfeld und verdeckt Teile des Texts. Nähst Du? Von den unverdeckten Teilen machst Du Dir ein Bild. Kühl, sagst Du. Die Frau ist kühl. Du möchtest wissen, woher sie kommt und wohin sie geht. Versuchst Dir vorzustellen, was sie denkt. Wie der Mann an der Tür.

Zwischendurch stehst Du auf, machst Dir in der Küche einen Kaffee. Die Milch kocht in einer kleinen Pfanne, während Du durch das Fenster blickst. Zu den Nachbarshäusern. Es hat Dich noch niemand gegrüsst von den Menschen auf der anderen Seite. Du siehst sie manchmal gehen und manchmal kommen. Ein Strich fällt Dir ein. Er gehört zu einem Mund, der lächelt. Das Lächeln hört bei den Lippen auf. Du merkst nicht, dass die Milch überkocht. Der Kaffee steht schwarz vor Dir. Was für Augen hat die Frau? Der Mann könnte es Dir sagen. Er aber steht im Text und redet nicht mit Dir. Nur Augen für die Frau. Dann hat sie vielleicht keine, denkst Du, und lässt sie leer. Ihre Augen.

An der Decke Deines Zimmers hängt eine Glühbirne. Nackt. Weil Du nicht weißt, wie Du sie verkleiden sollst. Das kommt schon, sagst Du, und vergisst, was kommen soll. 

Warum geht sie und ist doch so bewegungslos, die Frau? Du gehst ein paar Schritte über den Parkettboden. Er ist frisch versiegelt. Du stellst Dir Musik vor. Tango. Und tanzt lautlos. Nein, denkst Du. Sie tanzt nicht. Kein verwehtes Haar. Du legst Dich hin. Direkt unter die Glühbirne. Bett hast Du keines. Den Kopf neigst Du zur Seite. Der Haarknoten neben Deinem Hals. Dein Blick sucht die Frau im Text. Liegend betrachtet hängt sie knapp über der Tischkante. Als würde sie in einer geraden Linie über die Kante hinweg balancieren. Die Nase ein gerader Strich. Es wird kühler. Das sieht man der Haut Deiner nackten Arme an. Wie kleingeschriebene Blindenschrift. Acht Punkt vielleicht. Oder kleiner.

Sie ist irgendwohin gegangen, die Frau. Du möchtest den Mann aufmuntern, weißt aber nicht wie. Darum lässt Du ihn fallen. Den Kaffee schüttest Du in die Spüle. In der Milchpfanne die angebrannte Milch.

(September 2011)

Unberührt

Sie kommt irgendwoher, durch eine Tür, geht irgendwohin.

Tag für Tag.

An der Tür ein Mann.

Er öffnet, lässt sie kommen, passieren, gehen, schliesst,

irgendwie,

bis sie ihm ins Auge fällt.

Er wirbt,

lächelt,

dichtet,

malt,

lässt sie unberührt,

die Frau, die kommt und geht,

wie die Zeit,

bis er allmählich zerfällt,

fällt,

ins Gras beisst,

wo ein Blümlein steht.

Vergissmeinnicht.

(september 2011)

Letztendlich

Ich bin das Letzte, höre ich neben mir, was ich das Letzte finde, weil ich eigentlich das Letzte bin. Es darf nicht sein, dass jemand ausser mir beansprucht, das Letzte zu sein. Darum ich: Nein, nein, du bist das Erste deiner Art, welches das Letzte sein will, wenn, dann bist du höchstens das Vorletzte, was aber niemand will, also besser gar nichts. Alle wollen sie nämlich das Letzte: das letzte Tram, das letzte Einhorn, das letzte Stündlein. Und besonders mich.

Ich dachte, ich könne das andere vermeintlich Letzte einschüchtern. Falsch gedacht. Es gerät in Wallung und will gerade das letzte Wort an sich reissen, als es innehält und stutzt: Warum hängst du an einem Ständer wie eine Vogelscheuche, wenn dich alle wollen?

Das habe ich zuletzt erwartet: derart hinterfragt zu werden, wo doch völlig klar ist, wozu ich letztlich gut bin. Ich bin da, wenn alles andere weg ist. Ich umgarne, passe mich an, bin anschmiegsam. Ich bin das Letzte, das einer weggibt, der sich ein Neues leisten kann. Ich rette. Und jetzt kommt ein Kleidchen daher – womöglich direkt ab Stange – und erklärt mich als Vogelscheuche.

Und: Es hat Recht. Ich hänge wirklich an einem Ständer und wundere mich wieso. Dabei weiss ich es schon lange. Das Kleidchen erobert die Welt, hängt sich neben das Hemd, will das letzte sein. Das senkt die Nachfrage nach mir um mindestens die Hälfte. Mein Trost, damit ich nicht ganz zerknittere: Das Kleidchen baumelt auch am Ständer.

Ja, so könnte es sein. Oder ganz einfach:

Es wird Herbst. Letztendlich.

(September 2011)

Adam, lieber Adam

Mir ist heute nach was anderem,

so luftig, leicht ist mir,

verspielt, frech,

warum die Leiter tragen,

zum Apfelbaum,

bei all den Trauben in Garten,

den Arm ausstrecken,

und greifen,

so einfach,

warum also die Äpfel,

die so verboten,

und die ewige Erkenntnis,

warum nicht einfach unerkannt frönen,

meiner Schoss,

also du,

nicht ich,

kein Blatt vor den Mund oder sonstwo,

sieht uns ja niemand ausser wir,

uns in den Himmel schaukeln,

bis dir alles dreht,

du müde und trunken zur Seite fällst,

in einen tiefen Schlaf,

und bevor er dir eine weitere Rippe nimmt,

weck ich Dich,

Adam, lieber Adam.

(August 2011)

Rück-Spiegel

Irgendwie kam sie ihm bekannt vor.

Er: „Sag, bist Du etwa Schneewittchens Stiefmutter?“

Sie: „Nein – wie kommst Du drauf?“

Er: „Naja“, er hüstelte. „Die stand auch immer da und starrte mich an.“

Sie: „Wäre ich Schneetwittchens Stiefmutter – würde ich dann halbnackt vor Dir stehen?“

Er: „Wohl nicht.“

Eine Weile blieben sie beide stumm. Sie liess ihm aber keine Ruhe.

Er: „Ja, dann vielleicht Leiriope?“

Sie lachte. „Wenn Du mir den Flussgott zur Verfügung stellst: Warum nicht?“

Er: „Ja, bist Du dann vielleicht Narzisses Geliebte?“

Sie: „Echo? Da wäre ich schon lange unerwidert verhallt.“

Er: „Ich bin ratlos. Du bist mir so vertraut und ich weiss nicht woher. Verrate mir, wer Du bist.“

Sie: „Ich bin nicht sicher. Manchmal begegne ich mir unverhofft, wenn ich an Dir vorbeigehe. Dann bleibe ich stehen und denke: ‚Ich bin ja gar nicht ich! Ich bin meine Mutter, meine Grossmutter, meine Nachbarin, meine Freundin, meine Katze.’ Jedesmal eine andere. Da sagte ich mir: ‚Das nächste Mal bin ich es, der ich begegne.’ Ich strengte mich an. Färbte das Haar, mal rot, mal grün. Zupfte meine Augenbrauen, bemalte meine Lippen. Ich trug Hosen, Röcke, legte Pfunde zu und ab. Dennoch: Da sind immer die anderen, die mir entgegenblicken. Und jetzt komme ich, nackt, unbemalt, in der Hoffnung, ich würde mir begegnen. Was geschieht? Selbst Du siehst in mir alle anderen, nur nicht mich.“

Schweigen.

Sie: „Sag was, Spiegel. Sonst werde ich verlegen.“

Er: „Du überschätzt mich. Ich hänge nur da, um die Leere der Wand zu füllen. Bin also Teil der Wand. Wie willst Du Dir denn begegnen, wenn Du gegen die Wand starrst?“

Sie: „Wohin soll ich denn sonst starren?“

Er: „Kehre mir den Rücken, Unbekannte. Streichle Deine Katze, triff Dich mit Deiner Freundin, trink ein Bier mit der Nachbarin, hilf Deiner Grossmutter beim Jäten und lass Dich von Deiner Mutter umarmen.

Sie: „Und dann?“

Er: „Und dann – wenn Du Dich das nächste Mal umdrehst – werde ich Dich erkennen. Weil ich Dich ganz gesehen habe.“

(Juli 2011)

Hätte denken können

Gedankenverloren starrte er ein Loch in den Boden.

Ihm fiel nicht auf, dass er Füsse hatte.

Und schon gar nicht, dass er nur noch halbe Füsse hatte.

Er hätte sich viel dabei denken können. Er hätte denken können, dass er schöne Füsse hat. Praktische, mit richtig grossen Zehenzwischenräumen. Fusspilz – nein danke. Oder dass er nicht mit dem linken Fuss aufgestanden ist, weil ja beide Füsse da sind. Auch der rechte. Oder dass er die Füsse zu oft in Socken versteckt, dass es ohnehin seltsam ist, wie offen er all seine Körperteile immer zeigt und bloss seine Füsse gehemmt unter den Tisch stellt. Er hätte denken können, dass es wieder einmal Zeit wäre zu füsseln. Und wenn halt kein weiteres Fusspaar da ist: Warum nicht den einen mit dem anderen Fuss füsseln lassen. Oder Cinderella. Hat nicht eine ihrer Schwestern den Fuss verhäckselt, damit er in den schönen Schuh passt und sie zum schönen Prinzen? Er hätte sich auch denken können, wie es denn eigentlich kommt, dass er so unförmige Zehen hat. Ist er möglicherweise nicht normal? Haben alle anderen Füsse wohlgeformte Zehen? Leidet er womöglich an einer Dismorphologie? Er hätte das Wort Dismorphologie nachschlagen können, um sicher zu gehen, dass er das meint, was er denkt. Er hätte denken können, dass er sich vorkommt, als hätte er zwei amputierte Füsse, weil er es einfach nicht schafft, aufzustehen. Er hätte sich auch denken können, dass das auf gar keinen Fall seine Füsse sind, weil sie nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus simplen Strichen bestehen. Er hätte auch denken können, dass er sich täuscht und er gar nicht ein er, sondern eine sie ist.

Das alles hätte er denken können.

Aber er war ja gedankenverloren.

Und starrte ein Loch in den Boden.

(Juni 2011)