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Nacht

Dein Traum

schwebt im Raum

treibt schöne Blüten

die deine Sehnsucht hüten

bis sie

kaum aufgegangen

vom Windstoss eingefangen

sanft zu Boden fallen.


sarah king, 21.04.18



Bild @ Marius Scherler

"So wetzt vor Kampfbeginn mit schrecklichem Gebrüll der Stier am Holz die Hörner, weil er protzen will mit seiner Kraft; und blindlings peitscht er, wutentbrannt, die Lüfte: Dichte Wolken wirbeln hoch den Sand."

(Michel de Montaigne, Über den Zorn, 26.7.17)
Bild @ Marius Scherler

masseinheiten eines luftschlosses

ein winter, siebzehn fenster breit, acht kamine hoch, sechs monate lang, ein sommer, jetzt.

sarah king, 11.6.17
Bild @ Marius Scherler

Eine etwas andere Schöpfungsgeschichte

Es trug sich einst diese Begebenheit zu:

Kopflastige Gestalten kamen ins Grübeln ob ihres erstarrten Daseins. Also steckten sie die Köpfe zusammen und berieten sich, was zu tun sei.

Der Häuptling brachte die Idee auf, ein Köpferollen zu veranstalten. Handlungsunfähig wie sie jedoch waren, sahen sie sich dazu ausserstande. Einer - nicht auf den Kopf gefallen - kam auf die Idee eine Mit-Glieder-Versammlung einzuberufen. Es kamen Hände, Füsse, Beine, Arme. Als sich auch noch Bäuche dazugesellten, kam Stimmung auf.

Vorerst standen die Wahlen an. Ein Kopf wählte zum Beispiel einen Bauch aus den hinteren Reihen links und dazu eine rechte Hand (die ihm womöglich heimlich ein Zeichen gab). So hat sich Glied für Glied der Mensch selbst geschaffen und be-hauptet. 

Wer es nicht glaubt, der soll sich doch mal fragen, wie er zu seinen Füssen kam.

sarah king, 28.9.2016
Bild @ Marius Scherler

"l'idéal n'est que de la vérité à distance."

wir nehmen dich beim wort, alphonse, und fliegen, surfen, träumen.

sarah king, 6.3.16



Bild @ Marius Scherler

Über ein alltägliches, unverfängliches Geschehnis, das hier Erwähnung findet anstelle der vier voneinander getrennten Eisenteile, die aus der Ferne betrachtet ein Z ergeben, wozu sich nichts sagen lässt, weil Z unverrückbar am Schluss steht und allfällige Worte dazu von vorne aufgerollt werden müssten. Oder: Ohne Musse.

Wir sitzen auf einer Bank, du und ich. Hinter uns spielen Tannen Wald. Vor uns fahren Autos heim. „Ich bin Zorro“, sagst du. „Ja“, sage ich.

sarah king, 24. november 2015 
Bild @ Marius Scherler
  Foto @ Ariel Leuenberger

"I myself in your situation, if I had an appointment with a Godin . . . Godet . . . Godot . . . anyhow, you see who I mean, I'd wait till it was black night before I gave up."

(samuel beckett, waiting for godot)

serie le monde 6

Die ((un)heimliche) Ordnung der Dinge

Du erwähnst die Schachtel. Auf dem Jahrmarkt habest Du sie gefunden, ganz abgewetzt war sie. Möchtest Du sie sehen?, fragst Du sie. Ihr Ja willst Du nicht hören, schiebst ihr einen Zettel über den Tisch. Schreib es auf, sagst Du. So weiss ich es.

Dann stehst Du auf, öffnest den Schrank und schweigst. Für die Briefe, sagst Du. Dein Blick, merkst Dus?, ist heimlich verschmitzt. Du erklärst: Nicht die romantischen Briefe. Die sind anderswo, weit hinten im Schrank, in Wolle gehüllt.

Auch in diesem Schrank, in der Schublade - Du schaust auf und präzisierst – in der kleinsten Schublade, die kleinste ist die wichtigste - dort liegt der Lederbeutel mit einer Münze, wertlos zwar, aber ein Geschenk. Daneben der Schlüssel. Schau, sagst Du, und ziehst sie näher zu Dir heran. Du nimmst den Lederbeutel aus der kleinsten Schublade, klaubst mit zittrigen Fingern den Schlüssel hervor, ziehst sie weiter zum Schreibtischstock.

Die unterste Schublade ist für die wichtigen Dinge, sagst Du. Dann mit Nachdruck: Die unterste ist die wichtigste. Unmerklich ziehst Du den Kopf ein wenig zwischen den Schultern ein, während Du die Kassette aus der Schublade ziehst und den Schlüssel in die Kassette steckst. In der Kassette ist ein Blatt Papier, darauf sind fünf Zeilen, Personalien in Druckschrift.

Das bin ich, sagst Du. Als wüsstest Du nicht wohin damit, balancierst Du das Blatt einen Moment auf Deinen flachen Händen, legst es wieder in die Kassette, schliesst sie sorgfältig ab, räumst die Kassette in die Schublade und schiebst die Schublade bis zum lautlosen Anschlag. Den Schlüssel legst Du zurück in den Lederbeutel, den Lederbeutel in die kleinste Schublade im Schrank.

Dann stehst Du da. Und jetzt?, fragt sie. Du hebst die Hand, zögerst, lässt sie wieder sinken.

sarah king, 16.10.2014
 @ Walter Hofer
Bild @ Marius Scherler

Dichtestress?

  Foto @ Ariel Leuenberger

Geschichte aus der Wirklichkeit

„Ja, wirklich, eine Dame mittleren Alters lässt sich zu It’s a wonderful world von ihrem Labrador umtänzeln, der sogar das Kunststück fertigbringt, durch ihre zum Reif gebogenen Arme zu springen“ (der Bund, 5.5.14). Sie verbiegt ihre Arme, um zu illustrieren, wie der Reif ausgesehen haben könnte. Nach fünfzehn Sekunden steht sie noch immer in derselben Position vor mir. Ihr erwartungsvoller Blick verunsichert mich. Denkt sie, ich würde springen?

Dass ich ein Hund sein könnte, versetzt mich in Schrecken. Dasselbe Gefühl erlebte ich ein paar Jahrzehnte zuvor schon einmal. Herr Müller stand am Fenster, den Rücken der Klasse zugewandt, und liess den Blick über die Dächer schweifen. „In Wirklichkeit gibt es nur die Atome und Leere“ (Demokrit). Die Pause, die auf seine Worte folgte, liess mir genügend Zeit, meine Existenz in Frage zu stellen. Zuerst war nur Leere im Kopf. Dann ein klammes Gefühl im Bauch, dann löste ich mich allmählich auf. So aufgelöst rannte ich nach Hause. Meine Mutter hängte Wäsche an eine Leine, als ich angekeucht kam. Die Lunge schmerzte, die Zunge hing breit und schwer auf meiner Unterlippe und wenn ich es mir recht überlege, könnte es sein, dass ich schon damals ein Hund war. „Gibt es mich?“, fragte ich. Mutter hob eine Augenbraue. Zwischen ihren Zähnen klemmte eine weisse Wäscheklammer, und ebenfalls erst heute scheint mir der Gedanke nicht abwegig, dass die Wäscheklammer ein Knochen und die Mutter ebenfalls ein Hund war. Aber damals dachte ich an Atome statt an Hunde. „Gibt es mich?“, wiederholte ich etwas lauter. Sie liess ihre Arme sinken. Ich nahm ihre Hand und legte sie auf meinen Kopf. „Bin ich da?“ Mutter löste sich aus meinem Griff und trat einen Schritt zurück. Mit dem Zeigfinger hob sie mein Kinn an, blickte mir misstrauisch in die Augen und schwieg. Nicht ihr Schweigen brachte die Erleichterung, sondern ihr Finger. Er vermochte die Stellung meines Kopfes zu verändern. Ich existierte.

„Lasst Frauen machen, sie sind wirklich gut“ (NZZ, 23.9.11). Die Worte holen mich zurück in die Gegenwart, wo noch immer dieselbe Frau mit ihren verbogenen Armen vor mir steht und ein Gespräch fortsetzt, dessen Faden ich längst verloren habe. „Tschuldigung“, unterbreche ich sie, „was machen Sie eigentlich?“ Ich zeige mit dem Kinn auf ihre Arme. Die Frau stapft davon, ihr Murmeln klingt wie ein verquetschtes Bellen. Also doch, denke ich. Also doch ein Hund. Nicht nur ich. Wir alle. Darum merken wir es nicht.

Ich schlendere weiter durch den Park und mische mich unter ein paar Leute, die sich wie Trauben um einen Mann herum formatieren. Er steht mit einem Megaphon auf einem Küchenhocker. „Ist das Böse wirklich banal“ (die Zeit, 10.1.13). Er schlägt mit der Faust durch die Luft. Mit der anderen Hand umklammert er sein Manifest. „Schaut Euch um! Für uns ist alles auf den Kopf gestellt, für uns ist das Wirkliche unwirklich, das Unwirkliche wirklich geworden“ (Knausgard, Sterben). Verstohlen blicke ich mich um und versuche aus der Mimik der Anwesenden abzulesen, ob sie verstehen, was der Mann meint. Sie nicken, also verstehen sie, also nicke ich auch. „Doch könnte die wirkliche Welt der Wurzeln, des Kleinen und der Berge bald wieder so kräftig aufscheinen wie im 20. Jahrhundert“ (Blocher über Zaugg über Blochers Wirklichkeit, das Magazin, 19.4.14), fährt er mit sonorer Stimme fort. Gesenkter Blick, ausgetreckte Arme. „Lasst uns drei Minuten schweigend darüber nachdenken.“ Sein Vorschlag beglückt mich. Ich schliesse die Augen und denke. „Das Blut muss irgendwie aus deinem Kopf“ (Relä, 23.7.14). Das würde Relä jetzt sagen. Das sagt er jedem, der denkt. Er würde wohl dem Mann das Megaphon aus der Hand nehmen und die Menschen auffordern, sich drei Minuten im Park auszutoben statt nachzudenken. Die Menschen würden über Bänke springen, über den Rasen rollen und sich benehmen wie Hunde. Doch da geht schon ein Murmeln durch die Reihen, eine stetig wachsende „Suada, die“ in Anlehnung an meine soeben erlebte Stille „nicht aus dem Munde wirklicher Menschen kommt, sondern gar nichts braucht, in der Luft entsteht, da ist, wächst ... und auf einmal unter sich Menschen ansetzt“ (Musil über Shakespeare, die Zeit, 28.4.14). Oder Hunde.

sarah king, 24.7.2014

 Bild @ Marius Scherler

Neuland

Er sitzt im Haus.
Er malt ein Haus.
Er hält inne.
Er geht raus.

sarah king, 24.5.2014

Nabelung

zu dir treten, Hand ergreifen, Hand freigeben, eine Schale mit warmem Wasser, Essenz, die Dir beliebt,

das Tuch in Wasser tauchen, ausdrehen, von der Stirn bis zum Kinn, über die Wangen streichen, dem Nasenbein entlang,

die Lider tupfen, auf Umwegen hinter den Ohren elliptische Kurven zeichnen, zum Mund, die Lippen streifen, ruhen,

das Tuch in Wasser tauchen, ausdrehen, über das Kinn, Halt in der Grube, dem Hals entlang zwischen die Schlüsselbeine, mit Druck die ganze Länge des Armes,

über Fingerkuppen tanzen, die Hand als Wendeplatz, von blauen Adern geführt den Weg zurück unter die Achselhöhle,

das Tuch in Wasser tauchen, ausdrehen, die Brust umkreisen, von Aussen nach Innen, eine, beide, das Sternum als Piste, auf direktem Weg in die Nabelung,

reinwaschen.

sarah king, 11.3.2014

Bild @ Marius Scherler

irgendwann

so täusche ich dich

mit all dem,

was ich nicht habe,

damit dir das,

was ich habe,

ins auge fällt.

irgendwann.


sarah king, 22.2.2014

                                                Bild @ Marius Scherler   

nun dann halt

leicht konsterniert stellte er fest, dass er doch kein wolf im schafspelz war, sondern ein lackaffe.

sarah king, 3.2.2014

 Bild @ Susanne Leuenberger

Kompostgedanke

Wie schön, wenn das angestürmte Ziel einen langsam aufstöbert.

sarah king, 7.1.2014

                                              Bild @ Marius Scherler   

Plumsig

Dass er die Flasche entdeckte, verdankte er dem Umstand, dass sich eine Wolke vor die Sonne geschoben hatte. Hell hob sich das blaue Glas von der dunkel verfärbten Seeoberfläche ab. Ohne die Flasche aus den Augen zu verlieren, ruderte Marc auf sie zu und fischte sie aus dem Wasser. Das ist sehr, sehr romantisch, ging ihm durch den Kopf, ganz berührt, dass er der glückliche Finder sein durfte. Er entfernte mit hastigen Bewegungen den Zapfen und beförderte mit Zeig- und Mittelfinger das zusammengerollte Papier durch den Flaschenhals ins Freie.

Die Anrede im Brief liess ihn erschrocken aufschauen. Es befand sich kein weiteres Boot auf dem See, das Ufer zu seiner Linken war menschenleer. Zu seiner Rechten ragte nur ein steiler, unbegehbarer Fels in die Höhe, verziert mit ein paar kahlen Bäumen, die ihre Äste stolz dem Himmel entgegenstreckten.

Salut Marc, stand da. Du bist sicherlich erstaunt, irgendwo mitten auf dem See auf eine an Dich gerichtete Botschaft zu stossen. Wie konnte die Flasche Dich finden? Zumal doch niemand weiss, dass Du da bist. Wenn ich Dir nun sagen würde, dass Du diesen Brief selbst verfasst und gerade vor ein paar Minuten gut verpackt in einer blauen Flasche ins Wasser geworfen hast, würdest Du lachend den Kopf schütteln.

Marc lachte auf und schüttelte den Kopf. Hättest Du wohl gerne!

Und die Tatsache, dass Du das tun würdest, wie es hier steht, würde umso mehr von Deiner Autorenschaft zeugen, oder? Nun – ob Du diese Zeilen geschrieben hast oder ein anderer – wer weiss das schon. Bemerkenswert finde ich, dass Du überhaupt hier sitzt. Wie hast Du das angestellt? Bist Du geflüchtet?

Er liess den Brief sinken. Geflüchtet? Wovor?

Erinnerst Du Dich an die Kurve im Dorf? Die Kurve mit dem Lokal an der Ecke. Eine Kurve hat keine Ecken, denkst Du nun, aber damit lässt Du Dich von Deiner Vernunft nur wieder zurück auf die Strada Razionale lenken. Vermutlich wirst Du auch verneinen, jemals an der Ecke dieser Kurve in einem Lokal gesessen zu haben. Offensichtlich hat es aber mit dieser eckigen Kurve etwas auf sich, sonst würdest Du hier nicht über sie lesen. Dort jedenfalls, in dieser unvereinbaren Konstellation von Ecke und Kurve, über Deine Spagetti Carbonara gebeugt, war es, wo Du den Entschluss fasstest, dem vorgekochten Alltag den Rücken zu kehren. Raus aus den flauschigen Pantöffelchen und dem weichen Mäntelchen, in das Du Dich verhüllst, wie alle anderen, die vor und hinter dir geräuschlos und gepolstert durch die Gänge wandeln, mit einem Geradeausblick und gleichförmigen Schritten der Entspannung entgegen. In diesem Moment erinnert sich übrigens an einem anderen Ort jemand (vielleicht auch mehrere gleichzeitig) an die Millennium Bridge, die einzustürzen drohte wegen der hohen Resonanz, welche die synchronen Schritte der Passanten erzeugten. Hast es also geschafft, bevor der Boden unter Deinen Pantöffelchen weggebrochen ist. Gut so.

Marc blickte auf seine Füsse und staunte: Sie waren nackt. Ein mittellauter Schrei entfuhr ihm, als er feststellte, dass auch der Rest seines Körpers unbekleidet war.

Und so schaukelst Du nun in voller Blösse unter dem Himmel, der in der Abenddämmerung die Farbe eines sanft ausgeleuchteten Mutterleibes annimmt. Spürst Du, wie sich ob diesem Anblick eine leise Sehnsucht zwischen Deinem Gedärm hindurch, neben dem Herzen der Luftröhre entlang hochkämpft und mit nichts als einem tonlosen Atemstoss durch Deine Lippen entweicht? Dann wieder eine Wolke, direkt über Dir. Eine hartnäckige diesmal. Verschämt drängst Du Dich im Boot in die Ecke wie die kleine Gestalt in Munchs Madonna. Noch so eine Ecke, nicht wahr? Diesmal kannst Du sie nicht abstreiten.

Marc war hin- und hergerissen. Der Text brachte ihn in die missliche Lage, an seinem Verstand zu zweifeln.

Gut so. Mit einem solchen hätten sich die Bäume zu Deiner Rechten nicht auf einer fast senkrecht abfallenden, kahlen Felsnase niedergelassen, wo weder Moos noch Trüffel sich ihnen zu Füssen legen. Ihre Intuition bescherte ihnen Aussicht über den nächsten Bergkamm hinweg und einen Sonnenplatz. Stell Dir vor, Du stündest nackt neben ihnen, unter Dir ein Wolkenmeer, die Sonne brennt Dir auf den Schädel, Dir wird heiss und leicht plumsig im Kopf? Du weisst nicht, wie sich das anfühlt – „plumsig“? Ich auch nicht. Aber vermutlich so ähnlich wie die Momente kurz vor dem Wegnicken: Du hebst ein paar Zentimeter ab, schwebst einige Sekunden in der Luft, plumpst dann mit Wucht, aber benebelt leicht zurück auf das Bett und freust Dich über den Zufall (oder die weise Voraussicht), dass dort eine Matratze liegt, die Dich auffängt. Stattdessen sitzt Du aber hier auf harten Brettern und wunderst Dich, woher ich das alles weiss. Seit wann sitzt Du alleine Boot?

Marc schaute sich verunsichert um. Er meinte sich zu erinnern, dass er alleine dem Steg entlang zur Anlegestelle spaziert ist. Ja, er war sogar sicher. Da sass dieser nette Schwede in einem Häuschen und wünschte ihm eine schöne Fahrt. Nur ihm. Himmel, war ich da auch schon nackt? Unauffällig tastete er über seinen Bauch, unter die Achselhöhlen und nickte erleichtert. So sauber rasiert und erfreut über sein messerscharfes Erinnerungsvermögen wuchs seine Bereitschaft zum Aufbegehren. Klär mich auf!, rief er und schlug mit der flachen Hand auf den Brief. Durch die heftige Bewegung und eine plötzliche Föhn-Böe kam das Boot ins Wanken, worauf sich Marc rasch entscheiden musste: entweder der Brief oder die Ruder. Die Entscheidung fiel ihm leicht.

Er schaukelte noch eine Weile vor sich hin, beäugte kritisch die Bäume auf der Felsnase und ruderte schliesslich Richtung Ufer. Er hatte kalte Füsse.

sarah king, 6. november 2013, in erinnerung an deine fast-flaschenpost

                                               Bild @ Marius Scherler  

Wohin damit


Mohnblumen auf dem Fussballfeld,

von Rauch gedämpfte Gitarrenklänge,

das Mädchen mit Taube ganz unbewegt,

Geschichten vom Franz im Ohr,


Wirfst Kusshände durch die Luft,

fliegst ihnen hinterher,

zurück bleibt dein Schein,

wohin damit.


sarah king, 18. Oktober 2013

                                   Bild @ Marius Scherler 

Der Brief

Der Brief stand gut sichtbar mehrere Tage auf dem Briefkasten. Adressiert war er in schön geschwungener Schrift und Tintenblau an eine Frau. Als der Brief am achten Tag immer noch dort stand, nahm sie ihn an sich. Weder im Telefonbuch noch auf der Post konnte sie die Empfängerin ausfindig machen. So las sie den Brief.

Nuée,

Heute streifte ich wieder durch die Stadt, fast ohne Gedanken, bis ich mich in einer kleinen Gasse wiederfand, in der die Häuser aussahen, als würden sie den Bauch einziehen und die Luft anhalten, so eng waren sie aneinandergebaut. Vor einem dieser Häuser setzte ich mich auf eine Treppe und schaute um mich herum. Der Himmel über den Dächern war wolkenlos blau, die Luft roch nach nichts und offensichtlich befand ich mich gerade zu einer geräuschlosen Zeit in dieser Gasse. Ich nahm mir vor, so lange sitzen zu bleiben, bis der erste Mensch vorbeiging. So sass ich nach drei Stunden noch immer auf der Treppe. Dann – und das kam einem aufregenden Ereignis gleich – zog eine kleine Wolke über die Dächer. Für eine Weile blieb ihr Schatten vor meinen Füssen liegen. Ich gab der Versuchung nach und strich mit dem Zeigefinger seinen Konturen entlang. Unbeeindruckt glitt der Schatten unter meiner Hand hindurch, kletterte die Hausmauern hoch und verschwand auf der anderen Seite der Gasse hinter den Dächern. Etwas wehmütig war mir da zumute. Aus diesem Gefühl heraus begann ich in meinen Erinnerungen zu kramen und fand Dich, Nuée. Wie ein Flugbanner zogen Deine Worte von damals durch meinen Kopf. Wann sehen wir uns? Diese Frage meinte ich zu hören, als Du kurz zurückblicktest, während Du abgeführt wurdest. „Bald“, rief ich. Du schienst erleichtert. Wenn ich Menschen von Dir erzähle, ist es meist die immer gleiche Geschichte. Erinnerst Du Dich an den hässlichen Schrank? Der muss weg, sagten die Leute, wenn sie an ihm vorbeigingen. So blieb der Schrank viele Jahre an seinem Platz. Dann kamst Du, rümpftest nur still die Nase und stelltest den Schrank einfach weg. Das warst Du. Zwischendurch mit einer unverfrorenen Leichtigkeit.

Wie ich so in der Gasse sass, kam mir der Gedanke, dass auch ich es sein könnte, der den Bauch einzieht und die Luft anhält. Mein „bald“ liegt so viele Jahre zurück – ich hörte auf sie zu zählen. Nun aber, Nuée, will ich nicht zögern. Möge der Brief Dich schnell erreichen, damit wir uns bald wiedersehen, wie ich es damals versprochen habe. In zehn Tagen werde ich auf der Treppe in der besagten Gasse warten, bis Du vorbeigehst.

Bis bald,

B.

Sie griff nach dem Briefumschlag. Er wurde vor neun Tagen abgestempelt. Name und Adresse des Absenders waren nicht vermerkt. Sie steckte den Brief wieder in den Umschlag, klebte ihn sorgfältig zu und legte ihn dorthin zurück, wo sie ihn gefunden hatte. Für einmal, dachte sie, ging nicht der Brief verloren, sondern seine Empfängerin.

sarah king, 11. Oktober 2013

 Bild @ Marius Scherler

Anders

Was jetzt anders sei, wollte er wissen. Nichts, sagte sie. Sie betonte das Wort immer ein bisschen anders. Einmal sagte sie es mit kraftvoller Stimme, das N zog sie in die Länge und dem S liess sie ihren übriggebliebenen Atem in einem kraftvollen Stoss folgen, ein anderes Mal zog sie das I in die Höhe und liess das Nichts als Frage stehen, um beim nächsten Mal alle Laute zu verschlucken, womit das Nichts nichtig wurde. Aber etwas muss anders sein, sagte er dann. Aus der kleinen Pfanne auf dem Herd stieg Dampf auf, das Geräusch eines Kleinflugzeugs erklang aus der Ferne, der Zeiger ihrer Uhr bewegte sich jede Sekunde ein Stückchen vor, das Zimmer zum Garten hinaus war gerade leer, bevor es sich wieder füllen würde. Vor dem Fenster derselbe Baum, und immer wieder dieselben kleinen Tropfen, die frühmorgens auf den Blättern posierten, als wären sie nie weggewesen. Er trat zu ihr ans Fenster, berührte mit seiner rechten ihre linke Schulter. Mit beiden Händen umschloss er eine Tasse heissen Tee. Zitronenduft verbreitete sich im Raum. Es ist sicher etwas anders, beharrte er leise. Anders als sonst sagte sie nichts.

sarah king, 26. september 2013

Bild @ Marius Scherler  

kein

kein tipp-ex
kein tintenkiller
kein radiergummi
keine lösch-taste
kein durchstreichen
kein rückspulknopf
kein rückwärtsgang
keine schere
kein skalpell
keine tabletten
keine entschuldigung.

wir wären am <<DELETE>>


sarah king, 26.august 2013

                                                Bild @ Marius Scherler  

Lieber Peter Schneider

Ein Freund malte dieses Bild, das mir bei genauerem Hinschauen Sorgen bereitet: Es scheint, als würde eine leblose Gestalt an einer grossen Hand baumeln und nicht nur das – offenbar klettern drei weitere Gestalten geradezu willentlich dem Tode entgegen. Das ist doch abartig! Die Gestalten sind nackt, sogar ihre Genitalien sind sichtbar. Alles Männer. Auch die Hand gehört einem Mann (grosser Daumennagel, markante Fingerkuppen, wenn auch fragiles Handgelenk). Gesund sehen sie nicht aus, die Gestalten, eher ausgehungert und haarlos (Rasur, chemische Einwirkung?). Es erinnert mich an Genozid (das Männervolk wird vernichtet) oder an unheilbaren Krebs. Oder die hängende Gestalt ist nicht tot, sondern einfach komplett willenlos und einer Macht (der Hand) ausgeliefert. Diese lässt die Gestalt gleich plumpsen. Die Gestalt wird sich aufrichten und schnurstracks wieder den Arm hochkraxeln, um sich erneut von der Hand ins Nichts fallen zu lassen (masochistisch?). Der besagte Freund ist ein lebensfreudiger, sympathischer Mensch, mit vielen Träumen, die er sich verwirklicht hat und noch zu verwirklichen gedenkt. Eigentlich ganz unauffällig, geliebt und erfolgreich. Dennoch frage ich mich nun, beziehungsweise frage ich Sie, ob er nicht möglicherweise therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte, um seinen nonverbal ausgedrückten abartigen Ängsten nachzuspüren. Freundliche Grüsse, S.K.


Liebe Frau K.

Das ist nett, dass Sie sich um die seelischen Abgründe Ihres Freundes kümmern. Ich würde Ihnen zustimmen, dass dort unten Abartiges lauert, das nur darauf wartet, auf irgendeine Weise an die Oberfläche zu kraxeln (fast wie die sehnigen Männlein, die dem Arm empor klettern). Dabei kann das Hochgekraxelte schon mal in einem Bild zum Ausdruck kommen. Auch Freud liess es schliesslich nicht unversucht, vom Kunstwerk auf den Künstler zu schliessen: In Mona Lisas reserviertem und zugleich verführerischem Lächeln entdeckte er die verdichtete Kindheit Da Vincis, im Moses erahnte er Michelangelos Jähzorn, Ungeduld und Gewalt et cetera.

Die Tatsache aber, dass Sie mich nicht wirklich anschreiben, sondern nur so tun als ob, macht nun die Sache für Sie und mich um einiges komplizierter. Einerseits denken Sie sich nicht nur in die Seelenwelt ihres Freundes ein, sondern gleichzeitig auch in meine, indem Sie an meiner Stelle antworten. Somit kommen Sie nicht wirklich in den Genuss meiner professionellen Ausführungen, sondern Sie müssen sich mit Ihren eigenen vagen Gedanken begnügen. Und stellen Sie sich vor, welche Abartigkeiten zwischen meinen Zeilen lauern, die sie erneut in Sorge versetzen. Sollte dem so sein (wenn also Ihre Zensur Ihnen erlaubt, auch nur annähernd so unverschämt zu denken, wie ich es zu tun pflege), sind Sie fein raus, weil Sie Ihre eigenen Gedanken mir unterjubeln können. Wer spinnt denn jetzt?

Andererseits wissen Sie sicher (diese Formulierung würde ich als ich nicht wählen, aber da ich ja Sie bin, weiss ich in etwa, was Sie wissen), dass sich der Psychiater Rohrschach die Methode der Bildinterpretation zunutze machte, um die Psyche seiner Patienten zu analysieren. Dieses klassische Verfahren – und das wissen Sie auch – wird von der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie belächelt, was Ihnen offensichtlich schnurz ist. Das heisst: Auch wenn das Bild Ihres Freundes kein Tintenklecks ist, so sagt doch Ihre Interpretation dieses Bildes mehr über Sie selbst aus als über Ihren Freund.

Damit sich die Leserschaft nun nicht vorschnell darauf freut, einen Winkel Ihrer möglicherweise männermordenden, hypochondrischen oder masochistischen Abgründe zu erspähen (das ist letztlich auch nicht Ihre Frage), will ich schnell zu bedenken geben, dass es sich bei Ihrem Schreiben auch um eine Art Kunstwerk handelt und man folglich in den Interpretationen der Lesenden das Abartige suchen muss. Das wiederum steigert die Komplexität ins Unermessliche, denn somit ist eigentlich überhaupt nicht mehr klar, von wessen Abgründe wir hier sprechen.

Wenn ich Ihnen also nun rate, sich keine Sorgen um Ihren Freund zu machen, dann nicht, weil ich denke, dass nichts Abartiges in ihm schlummert, sondern einfach weil ich zu bequem bin, mich auf dieses Verwirrspiel einzulassen. Geniessen Sie doch einfach seine Bilder: die konzentrierte Führung der Linien, die Proportionen der einzelnen Bildelemente und deren farbliche Komposition!

sarah king, 7. august 2013

                                                Bild @ Marius Scherler 

 serie le monde 5

zwischen ihnen die erinnerung als farbtopf, in den sie sich gegenseitig tunken.


sarah king, 6.august 2013

 @ Walter Hofer   

serie le monde 4 

... da waren's wieder zehn. 


sarah king, 28. juli 2013

 @ Walter Hofer  

                                                                                                                      Bild @ Marius Scherler

Ein Tschick auf Reisen

Einfach los, mit Kinokamera und einer Lambada, kein Flugschein, in Windrichtung über das Startfeld rattern, duckende Kühe, sorry!, dann abheben, höher und höher.

Die Welt von oben sehen, Wolken wie aufgestapelte Wattebausche, nur einmal kurz, das wäre schön, in Watte gepackt, aber wehe ein anderer will von umgekehrt dasselbe, also Augen zu und durch.

Und schau an: kaum wieder draussen, ein Landstrich wie hingemalt, unverkennbar statt totes Meer

das Kandertal!

(Oder etwa der Kanton Zürich?)

Ist Hans was Heiri, da so oder so ein schönes Örteli,

und nepotisch hier wie dort, darum Sinkflug und träumen von einer Zukunft in einem Steinhäuschen neben einem Wasserfall, romantisch im Klang des Geplätschers Schiefertafeln beschreiben und sie verstecken in Felsritzen,

(bis 100 Jahre später irgendein Finder sich brüstet mit der Biografie eines verschrobenen Schriftstellers).

Vor lauter Träumen um ein Haar mit einem Schaf in die Wolle geraten, unbeirrt weidend, zum Glück der Reflex, Steilflug nach oben, unendliche Kreise ziehen, mit Blick nach unten: Das nimmersatte Vieh! Leiser Schwindel vom vielen Kreisen, die Tentakel der hinterlistigen Müdigkeit im Nacken, und – wer denkts? – aufwachen mitten auf dem Ganges schaukelnd.

Zwischen Müllsäcken, toten Hunden und rotem Sofa ein paar Inder-Kinder beim morgendlichen Flussbad, seltsam.

Noch seltsamer: auf dem Sofa, ein ungarischer Jude „Meister Yehudi mein Name, wie Du heisst, ist mir schnurz, kannst vieles heissen, aber fliegen kannst Du nicht, drum lern ichs Dich.“ Bis zur Enttäuschung:

Mehr Protz denn Meister, denn Jude, denn Ungar. Einfach ein Stefan Ast, träg und faul,

tagein, tagaus auf der roten Couch das Kulturmagazin vom Tagesanzeiger lesend, von vorne nach hinten, von hinten nach vorne, auf dem Kopf und diagonal. Also tschüss Herr Ast, weiter fliegen, schnurstracks nach Mansfeld, landen im Tempelhof.

Und da – ja, da – ein Mensch auf einem Mäuerchen, mit einem Gesicht wie ein Gedicht, nein – wie ein Lyrikband oder zwei, so gänzlich ohne Symmetrie, ohne Lächeln, ohne Glanz – wie schön!

Die Beine in die Hand nehmen und rennen, bis ich Dich finde!, und je näher am Gesicht, desto zerstückelter die Poesie,

der Mensch nunmehr, oje, fast unsichtbar,

also keine Polonaise im 3/4tel-Takt,

weiterleben wie ein frigider Pinguin,

immerfort dieselbe Zeile im Kopf: „Your memory is a monster; you forget—it doesn't“, dazu ergeben über 
den Flughafen stapfen, die Lambada an einer Schnur hinterherziehend,

was für ein Kabarett, aber was solls,

so ists mit Tschicks mitner Lambada,

sie verlaufen irgendwann im Sand.

sarah king, 29. juni 2013

Welteroberung

„Zwei?“ – „Mhm, ich hab sie gesehen. Nackt, undefinierbar weisst Du, und ganz gelassen, stoisch, gleichgültig, weiss nicht, irgendwie ..“ – „Wie lange hat er die schon?“ – „Weiss nicht, zwei Wochen vielleicht. Er blickte eines Morgens in den Spiegel und da sassen sie auf seiner Schulter. – „Überraschung.“ – „Er fragte mich, ob ich ihn nun sonderbar finde.“ – „Und? – „Ja, klar, also ich meine .. klar sagte ich nein, aber .. stell Dir vor, der schleppt die jetzt einfach mit sich herum, einfach so, die könnten sich ja vermehren. Vielleicht ist das die sprunghafte Entwicklung der Mikroorganismen, Viren nach einem evolutionären Prozess, Geschwüre mit Intelligenz oder lebendig gewordene Gedanken. Sie werden die Welt erobern, wie einst wir die Welt eroberten. Noch sitzen sie gelassen und still auf seiner Hand, aber dann, in einem kurzen Moment fehlender Aufmerksamkeit schreiten sie zur Tat – Zack. Musst schauen, bald sind die auf Facebook, Xing, Plaxo, überall – twittern sich durch die Welt, machen Friends, Revolution, Terror, Weltkrieg.“ – „Hoppla.“ – „Findest Du diesen Gedanken etwa sonderbar?“ - „Nein“, sagte er leise und wendete sich ab. Er zog sich zurück auf einen grossen Daumen einer linken Hand und lehnte sich zurück zum Nachdenken.

sarah king, 19. juni 2013

   @ Marius Scherler 

Oder

Vielleicht ist es wegen der o-förmigen Beine, dass er nicht geht, sondern schlendert. Abwechslungsweise verliert sich mal der eine, mal der andere Arm hinter dem Rücken, nur flüchtig und zufällig, die Hände entspannt, die Finger leicht gekrümmt, mit den nächsten Schritten schlenkern die Arme nacheinander in einem runden Bogen um die Hüfte herum nach vorne, langsam, fast träge, aber doch mit einer so präzisen Regelmässigkeit wie das Pendel einer Uhr, im Sekundentakt.

Er schlendert nicht zum Zeitvertrieb, schaut nicht links, nicht rechts, aber auch nicht nach vorne, wohin sein Kopf gerichtet ist. Viel mehr verfolgt er mit seinen Augen die Gedanken, die wie Bienen ihr Nest seinen Kopf umkreisen. Sein Weg ist stets derselbe. Sechsmal begeht er ihn täglich – dreimal von Westen nach Osten, dreimal von Osten nach Westen, immer in derselben Geschwindigkeit und selbstvergessen zufrieden. Woher er kommt und wohin er geht, weiss niemand, auch nicht, ob er jemals stillsteht, ein Ziel hat, zu einer Tür raus und zu einer anderen rein geht. Manchmal, wenn ihn jemand grüsst, verlangsamt er seinen Schritt, so lange, bis die Bienen die Sicht freigeben auf den Grüssenden, aber wenn es soweit ist, trifft sein Rückgruss nur noch auf einen davoneilenden Rücken und verhallt klanglos.

Natürlich wäre es jetzt interessant, wenn ein Ereignis eine plötzliche Wende brächte. Der Mann wählte einen anderen Weg oder er ginge zumindest auf der anderen Strassenseite oder er grüsste als erster oder er hätte keine Bienen um den Kopf herum oder er kreuzte einen anderen Schlendrian und wie sie sich so kreuzten, verhedderten sich ihre Gedanken und sie schlenderten ein Stück des Weges zusammen, oder vielleicht wäre er zu spät und müsste rennen oder er setzte sich unterwegs auf ein Mäuerchen und wartete oder sein Handy klingelte oder die Pollen brächten ihn zum Niesen oder es geschähe ein Unfall oder die Strasse würde aufgerissen und gesperrt oder er würde überfallen oder er würde selbst jemanden überfallen oder er würde die Grüssenden stöckeln oder sie überschwänglich umarmen oder ein Vogelschiss träfe seinen Kopf, er hielte inne, richtete seinen Blick in den Himmel und würde bei dieser Gelegenheit unmerklich zusammenzucken ob dem Anblick der unverhüllten Bäume.

Doch die Gewohnheit kennt kein Oder, oder?

sarah king, 19. mai 2013

  @ Marius Scherler 

Wasserbett

Ganz still lag der Wasserbettzubehörmensch im Wasserbett, seine Zehen schauten unter der Decke hervor, Kopfkissen hatte er keines, mit geschlossenen Augen lauschte er, wie der Wasserbettverkäufer mit den Wasserbettinteressenten verhandelte. Manche lachten ungläubig, andere brachen das Wasserbettverkaufsgespräch abrupt ab und eilten davon, „so ein Wasserbettverkäuferspinner“, murmelten sie, das regte den Wasserbettzubehörmenschen auf, aber nur wenig, denn bald kamen die nächsten Wasserbettinteressenten, eine Kleinfamilie, kein Lachen, kein Unglaube in der Stimme, „dürfen wir testen“, fragte der Kleinfamilienmann, „bitte“, sagte der Wasserbettverkäufer, so legte sich die Kleinfamilie zu ihm ins Bett, „können Sie ein bisschen zur Seite rutschen“, bat die Kleinfamilienfrau, er reagierte nicht, „hallo“, sagte die Kleinfamilienfrau lauter, „rutschen Sie Mal ein Stück“. Die Kleinfamilienfrau reagierte auf seine Bewegungslosigkeit mit Augenrollen (was er nur ahnte und nicht sah) und schmiegte sich schliesslich an ihn, der Kleinfamilienmann wiederum schmiegte sich an die Kleinfamilienfrau, das Kleinfamilienkind sass am Bettende und spielte mit seinen Zehen, was sehr unangenehm war, warum er es gerne fortgeschubst hätte, aber er beherrschte sich professionell. „Sie, Wasserbettverkäufer“, rief der Kleinfamilienmann plötzlich, worauf der Wasserbettverkäufer heraneilte. „Der Wasserbettzubehörmensch bewegt sich nicht, ich glaube, er schläft.“ – „Ah ja“, sagte der Wasserbettverkäufer. „Das muss so sein, er lässt Ihnen Ihre Privatsphäre und wird erst aktiv, wenn Sie schlafen.“ – „Und was tut er dann?“ Der Wasserbettverkäufer rückte seine Brille zurecht, legte die Stirn in Falten und meinte in wasserbettfachmännischem Ton. „Skippen.“ Allgemeines Aha und Nicken. Er wurde gekauft.

sarah king, 2. mai 2013

                                                  @ Marius Scherler 

Nachtschatten

Zwischen Gepäckscan und Torsonde sitzt Du in Jeans und Kapuzenpulli auf einem Stuhl und nippst an Deiner Wasserflasche. Einzelne Strähnen Deines langen Haares schlängeln sich unter der Kapuze hervor. Du blickst auf, als ich mich neben Dich setze und – wie Du – an meiner Wasserflasche nippe. Wir nicken uns zu, lächelnd, weil wir unausgesprochen wissen, dass wir dasselbe Ziel haben: austrinken, um hier fortzukommen. Mit jedem Schluck sinken wir tiefer in die Stühle und fühlen uns entspannter. Durch die grossen Fenster beobachten wir die Flieger in der Dämmerung. Sie rollen lautlos über die Betonwüste und heben ab, als wären sie mit Helium gefüllt.

Mit diesen Fenstern, sagst Du plötzlich, wirkt es, als würde da draussen alles schweigen. Du denkst laut weiter, was wohl das Schweigen ist, wenn es gebrochen werden kann, eine Eisfläche vielleicht, Panzerglas, eine Mauer oder ein Ast? Und was dann die Stille sei – Wasser, weil man darin versinken kann, oder ein Mantel, in den man sich hüllt? Es komme Dir vor, fährst Du fort, als müssest Du hier sitzen bleiben, bis Du es weisst. Du hebst Deine Wasserflasche. Sie ist über Deinen Durst hinaus gefüllt. Mit unbeweglicher Miene stehen die uniformierten Männer am Fliessband und scannen das Gepäck.

Wie heisst Du, frage ich nach einer Weile, während ich mein Wasser über die Pflanze vor uns giesse. Du sagst lange nichts. Dann stellst Du plötzlich Deine Wasserflasche unter den Stuhl, streifst Dir die Kapuze vom Kopf, greifst nach meiner Hand, drückst sie ein paar Mal fest, stehst auf und gehst mit grossen Schritten durch die Torsonde. Verdutzt bleibe ich sitzen. Ich greife nach Deiner Wasserflasche unter dem Stuhl, nippe daran und hülle mich für einen Moment in die Stille und in die Wärme Deines Händedrucks, die Du zurückgelassen hast. Vor dem Fenster steigen noch immer die Heliumflieger in den Himmel, die Pflanze vor mir öffnet gerade eine Knospe. Sie sieht aus wie ein bittersüsser Nachtschatten.

sarah king, 2. februar 2013

   @ Marius Scherler

  @ Marius Scherler 

Gezüchtigte Sehnsucht

Allerlei Menschen – Frauen, Männer, Mädchen, Jungen, manchmal namentlich wie Goethe -  blicken auf Bildern zum Fenster hinaus, den Maler im Rücken, als hätte er seine Staffelei in der Mitte des Zimmers aufgestellt, um die Sehnsucht der Hinausblickenden von hinten festzuhalten.

Wie einfach ist es, diesen Blicken gedanklich zu folgen, zum Fenster hinaus, und sich vorzustellen, was die Sehnsüchtigen zu sehen wünschen ausserhalb ihrer Komfortzone: den Flieger, der hoch oben lautlos die Wolken streift, den Kioskverkäufer auf der gegenüberliegenden Seite, der ab und zu ein Los aus dem Regal klaubt und mit einer Münze konzentriert, mit langsamen Bewegungen sein Glück freirubbelt, die Amsel auf dem Ast, die mit der Elster flirtet, das Meer, das von keinen Wänden begrenzt in jede Richtung endlos scheint, das Kind auf dem Balkon, das seiner Mutter mit nichts als Gedanken ein Bein absägt, es durch ein Holzbein ersetzt und sich die Mutter zum Piratenfreund macht, die Frau im Park, immer mit geschlossenen Augen, und daneben der Mann mit roter Windjacke, der ihr die Zeitung von hinten nach vorne vorliest, der selbst dann noch vorliest, wenn das letzte gedruckte Wort schon längst gelesen ist, die Nachrichten selbst erfindend, damit für die Frau der Strom des Lebens nicht abreisst. Das und mehr malen sie mit, die Maler im Zimmer.

Aber nun sitzt du – Maler – mit deiner Staffelei auf einem Boot weit draussen im Meer, im Flieger, der Kreise zieht, auf dem Ast vor dem Fenster, bei den Nachbarn auf dem Balkon, im Kiosk, im Park, blickst von dort zu den Fenstern hoch, drängst aus dieser Perspektive die Hinausblickenden weg von ihren Aussichtsposten zurück in ihre kleinen Welten, wo sie das tun, was sie zu sein meinen, züchtigst ihre Sehnsucht und schrumpfst meine Fantasie auf Zimmergrösse. Im Moment. 

sarah king, 20. januar 2013

zartbesaitet

würde man alle zarten saiten mit gewichten stählen, bliebe am ende womöglich nur noch der bass als begleitung zur fehlenden melodie.

sarah king, 18. november 2012

  @ Marius Scherler

serie lemonde 3

Geworfene Körper

Heute gibt es andere Modelle, moderner, kaum sichtbar, maximaler Schutz, ballistisch, sagt sie, von Ballistik, sagt das Wörterbuch, die Lehre von geworfenen Körpern. Ballistische Modelle also, deren Name an eine Seifenmarke erinnert, die sich kombinieren lassen mit einer Haut aus Titan und einer weichen Trauma Einlage. Zum Reinkuscheln, sagt sie, da wirkt Dein Felsstück antik daneben, es verhält sich zur Trauma-Einlage wie die Zeitung zum neuesten ei-Produkt, wo alles drin und kaum was dran ist, fährt sie fort, und sowieso war früher alles aus Holz, erwidert er, und klammert sich leidenschaftlich an das Überbleibsel seiner abgetragenen Berge.

sarah king, 17. november 2012

 @ Walter Hofer  

serie lemonde 2

Von glattrasierten Beinen und Gedanken-Transport

Ich klebe nächstens eine Briefmarke auf meine Gedanken und schick sie Dir A-Post. Es kann jedoch sein, dass die Briefmarke nicht an den Gedanken haften bleibt. Besser, ich passe unten an der Haustür den Postboten ab und bitte ihn, meine Gedanken bei Dir einzuwerfen. Er sagt dann wohl, dass die Gedanken zuerst von der Post bewilligt werden müssen, bevor er sie austragen darf. Abstempeln halt. Oder der Velokurier? Einer mit glattrasierten Beinen und Glatze, damit kein unnötiger Luftwiderstand entsteht. Einer, dem der Fahrtwind selbst dann ins Gesicht geweht steht, wenn er vom Fahrrad steigt. Wobei: Das Tempo bringt die Gedanken durcheinander, sie sind ja so leicht und drohen zu verfliegen. Ich hätte Dir die Gedanken natürlich heute Morgen persönlich übergeben können, aber da waren sie noch etwas verträumt. Wie gestern und vorgestern und überhaupt. Scheinbar könne man Gedanken auch einfach so übertragen: Habe ich gleichzeitig Gedanken an Dich wie Du an mich, arrangieren sie sich wegen dieser Gleichzeitigkeit zu etwas Einheitlichem. Wie sie das machen, verstehe ich nicht, aber das überlassen wir dann den Gedanken, oder? Aber - nein. Sie können sich unterwegs verirren und verpassen oder gar mit fremden Gedanken kollidieren. Ach komm, ich ruf Dich an und übergebe sie Dir sofort. Gleich werde ich mich erheben, zum Telefon gehen, Deine Nummer wählen und Dir sagen: „Lieber Mensch, ich habe schöne Gedanken für Dich.“ – „Was für welche?“, wirst Du fragen und mich verdutzen, weil ich mir darüber keine Gedanken gemacht haben werde. „Einfach schöne.“

sarah king, 5. november 2012

 @ Walter Hofer 

serie lemonde 1 

Gegenwarts-Notiz

"Ich bin der Zeit voraus!",

brüllst Du,

und rennst an uns vorbei,

wie ein grosses, haariges Tier,

mit den Fäusten auf Deine Brust trommelnd,

und wirbst für Dich und etwas,

was wir nicht mehr sehen,

Du kleiner Punkt Du,

in der Ferne.

sarah king, 31. oktober 2012

 @ Walter Hofer

@ marius scherler 

porträt: himmelsstürmer im freien fall


Nachtrag:

"Ein Rekordsprung passt nicht zu diesem Bildformat."

Als würde das Querformat dazu verleiten, sich den Himmelsstürmer horizontal statt senkrecht fliegend vorzustellen; bricht er mit seinem medienwirksamen Rekord nicht nur die Schallmauer, sondern auch den Stil eines mit Hingabe und in Privatheit angefertigten Gemäldes; führt er vor Augen, dass Fantasie selbst in höheren Sphären begrenzt, weil umsetzbar ist; keine Luftschlösser, keine Luftibusse; rotierenden Luftikussen gewichen, von Greifvögeln gepackt; vakuumverpackt konserviert; oder lassen sich letztlich alle Formate dieser Welt doch irgendwie zusammendenken. Unter einem Himmel. 

sarah king, 16. Oktober 2012

A.N.O.N.Y.M

Ich lebte früher im Busch. Manchmal blinzelte ich zwischen den Blättern hindurch, schob die Zweige mit etwas steifen Fingern beiseite und blickte hinaus. Direkt an den nächsten Busch. In meinem Busch hatte es ein Telefon. Quasi ein Buschtelefon. Wenn es klingelte, klingelte es laut und unverkennbar wie ein Telefon. Es hatte eine Wählscheibe, eine Gabel und einen Hörer an einem gerollten Kabel. Gespannt stellte ich mir vor, wer am anderen Ende der Leitung ist. Der kurze Moment der Stille nach meinem „Hallo“ war der Höhepunkt der Spannung. Ich war wach, aufmerksam, ganz fokussiert. Mit dem "Hallo" der anderen Person kam die Erlösung.

Jetzt lebe ich nicht mehr im Busch. Das Telefon ist auch kein Buschtelefon mehr, sondern ein kleines, modernes Freilufttelefon. Es klingelt wie eine zeitlose Kirchturmuhr, wie Mozart aus der Musikdose, wie trockene Wellen, Michael Jackson nach einer Stimmbandoperation, atheistisches Mönchsgebet oder wie ein Büchsenbuschtelefon. Ein Display identifiziert die „Hallo“-Sagenden. Manchmal gibt es sie aber noch – diese Momente der gebannten Aufmerksamkeit, immer dann, wenn „Anonym“ aufleuchtet. Wobei: Mit der Erfahrung sinkt die Spannung und „Anonym“ lässt sich einordnen: Verkäufer oder Unterdrückte, die unterdrückt anrufen.

Bei beiden folgt auf den Moment der Aufmerksamkeit Irritation statt Erlösung. Beim Verkäufer weiss ich selbst nach seinem „Hallo“ nicht, wer mit mir spricht. Er sagt: „Ich verkaufe Ihnen ein Zeitungsabo zu einem Sonderpreis für nur so und so viel, inklusive – und jetzt Achtung: Das ist einmalig nur für Sie! – inklusive einem Gratiswochenende dort oder dort.“ Und ich höre: „Ich will Ihnen jetzt ein Zeitungsabo verkaufen, eigentlich mache ich das ungerne und nur deshalb, weil ich das Geld brauche, jetzt tun Sie mal nicht so, als wären Sie etwas besseres, nur weil Sie nicht täglich hunderte von Wildfremden anrufen.“ Aber weil er das nicht sagt, sondern nur so klingt, ist mir, als wäre einer zwei, und ich weiss nicht an welchen der beiden ich mein „Nein“ richte.

Bei den Unterdrückten ist es schwieriger. Da wirkt einer wie eins. Trotzdem ist da etwas. Vielleicht dieses kleine Detail, dass sie anonym sagen, was sie echt denken. Es weckt in mir das Verlangen nach verschlossenen Räumen. Ich unterdrücke meine Stimme, bis sie kaum mehr als ein atemloses Hauchen ist. Getarnt und undefinierbar bin ich. Ein bisschen wie eine Komplizin. Meine Gedanken schweifen zum Busch, ich blinzle zwischen den Blättern hindurch, schiebe mit etwas steifen Fingern die Zweige beiseite und warte auf das Telefonklingeln. Dieses Klingeln, das so unverkennbar echt wie ein Telefon klingelt.

sarah king, 25. september 2012

   @ Marius Scherler

Und das und das und vielleicht noch das

Schreib das nicht, bittest Du, und das auch nicht, und vielleicht auch das besser nicht,

und am Schluss bleibt das: ein offizieller Lebenslauf, Name, Alter, Geschlecht, Zivilstand, Beruf, Hobbys, Wohnort,

und sie denkt, so geht das nicht; warum das und das und vielleicht noch das nicht schreiben, wenn das doch da ist, wenn eben gerade das Du bist,

und sie ahnt, dass sie es nicht schreiben wird, das und das und vielleicht noch das,

und auch viel anderes nicht, das auch da ist,

und plötzlich wünscht sie sich, dass sie das nicht sieht und nicht weiss, weil das Dir gehört, dass sogar das Dir gehört, was Du heute von Dir zeigen willst,

und sie merkt, wie sie gedanklich eine unsichtbare Grenze zieht, um Dich herum, um sich herum,

und wie die Distanz zwischen Dir und ihr grösser wird, und damit auch die Nähe,

und so schaltet sie das Tonband aus, legt es vor Dich hin, und geht.

Wie das nun zur Zahl auf dem Mast mit rotem Hintergrund passt? 

Gar nicht. Aneinander vorbeigeredet. Vielleicht.

sarah king, 1. september 2012

  @ Marius Scherler

Sechs Absätze

Vergesst, was Ihr über mich gelesen oder von mir gehört habt. Die Musikerin, die ich bin, die Michiganianerin, die Tochter eines Vaters und einer Mutter, die mein Leben mit Tönen überzogen, meine Länder, mein spätes Kind, die Zahl in Klammern hinter meinem Namen in irgendeinem Artikel, meine Sprachen, alle Namen: meinen eigenen, diejenigen meiner Songs, meiner Berufsfreunde. Vergesst, weil es wahr und dieselbe Wahrheit ist für jeden, der dasselbe liest und hört wie Ihr. Jede Erfindung weit verfehlt.

Ja, bitte, tut das, erfindet mich, gebt mir jeden Tag ein neues Gesicht, ein neues Kleid. Oder macht mich nackt, schön, hässlich, lasst mich in einem Gedanken zur Revoluzzerin aufblühen und in einem nächsten zur nivellierten Opportunistin. Verleiht mir beliebig viel Stärke oder Schwäche, streitet, macht Liebe mit mir, dichtet mir eine Warze hinter das linke Ohr und einen Pickel auf den Bauch, verpasst mir ein Schicksal, doch haltet nicht fest an dem Bild, das Ihr gestern von mir gezeichnet habt.

Nehmt, was ich Euch hier gebe, meine Gesten, meine rot bemalten Lippen, mein buntes Gewand, meine in Klänge verwobenen Bewegungen, meinen sanfterstaunten Blick und überseht nicht den Schatten, der sich nur hinter mir verbirgt, nicht aber verschwindet, wenn Ihr mich frontal beleuchtet.

Wartet nicht, dass ich Euch hier vorgeschrieben werde. Schreibt mich selbst und Euch gleich mit.

Einer nennt das Fantasie.

Und meint Liebe.

sarah king, 30. juli 2012

 Foto © Marco Zanoni  

Erwachen

Während Du meinst, der Schlaf gehöre nur Dir, ausschliesslich, und niemandem sonst,

weil nur Deine Augenlider schwer werden, Deine Gedanken leicht, nur Dein Tag entgleitet,

während Du das meinst, und Dein Kopf trunken zur Seite kippt,

legt sich auch die Flasche hin, bäuchlings, der Whisky schlafwandelt in alle Richtungen, der Abfalleimer streckt sich, entlädt sich im Schlaf seines Mülls, Schlafschwitz an den Wänden, die Ecke des Bildes wohlig eingerollt,

nur die Schatten unermüdlich, wandern in Seidenschuhen im Mondschein über die Fliesen, jederzeit bereit, alles zu wecken, bevor Du erwachst,

damit Du weiterhin glaubst, der Schlaf gehöre nur Dir, ausschliesslich,

und das Erwachen.

sarah king, 1. juli 2012

 @ Marius Scherler (aus den Jugendjahren)

Im Kreisel

Ich gehörte einem alten Mann. Er sprach mit niemandem. Auch nicht mit mir. Er lebte in einem halb zerfallenen Haus, das aus nichts als einer Küche bestand. Die Tür zur Strasse stand immer offen. Sommer und Winter. Eigentlich hatte er gar keine Tür. Nachts setzte er sich an den Küchentisch, legte seinen Kopf auf die Tischplatte und schlief bewegungslos durch bis zum nächsten Morgen. Damit er nicht einen steifen Nacken bekam, lag abwechslungsweise eine Nacht die linke und die nächste Nacht die rechte Wange auf der Tischplatte. Er schnarchte nie. Nicht ein einziges Mal. Die Schuhe zog er vor dem Schlafen aus und stellte sie zum Auslüften vor die Küchentür. Ich erinnere mich gut an den Geruch, weil ich neben den Schuhen stand, den Kopf in der Küche, die Hufe draussen. Er hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn ich seine Küche betreten hätte, der Alte, doch ich bin ein Tier und will nicht zu menschlich sein. Aber den Mann liebte ich, obwohl er ein Mensch war.

Einmal – auf dem Weg zu meiner kleinen Wiese – schlurfte er fünf Meter vor mir her, die braunen Hosen hingen lose über seinen schlaffen Hintern, der nur dank der Hosenträger verborgen blieb. Er starrte auf den Boden, würdigte mich keines Blickes, wie immer. Er hat mich in all den Jahren kein einziges Mal angeschaut. Aber er hörte wohl recht gut. Kaum blieb ich stehen, verharrte er still, ohne sich umzudrehen, und wartete, bis ich mich wieder bewegte. An jenem Tag eben, als er vor mir her schlurfte, da verringerte ich versuchshalber die Distanz zwischen uns. Ich ging einfach ein bisschen schneller, bis nur noch ein halber Meter zwischen uns war und musste meinen ganzen Willen zusammennehmen, um nicht diesen halben Meter auch noch aufzuholen, neben den Alten zu treten und wie zufällig mit meiner Flanke sachte seinen knochigen Arm zu streifen. Er stank. Das entging mir nicht. Aber es war mir egal. Ich stank auch. Er nach ungewaschenem Mensch, ich nach ungewaschenem Esel.

Jeden Tag brachte er mich zu dieser kleinen Wiese, die kaum grösser war als seine Küche und die ich nach zwanzig Minuten abgegrast hatte. Sie war mitten in einem Kreisel. Den ganzen Tag wurde ich von Autos in allen Farben umrundet. Manchmal drehten die Fahrer eine Extrarunde, kurbelten das Fenster runter und redeten mit mir. Verstanden habe ich kein Wort. Ich blieb einfach stehen und verglich die zum Fenster rausfuchtelnden Arme mit den Armen des Alten und stellte einen Unterschied fest. Abends holte mich der Alte wieder ab. Er überquerte die Strasse, ungeachtet der Autos, die regelmässig Vollbremser machen mussten wegen ihm. Seelenruhig öffnete er das Gatter, drehte sich um und ging wieder Richtung Küche. Ich fünf Meter hinterher.

Es war ein wirklich schöner Sommertag, als der Alte am Morgen den Kopf nicht mehr von der Tischplatte hob. Ich wendete meinen Blick nicht von seinem halbkahlen Schädel. Am Mittag scharrte ich zwei, drei Mal mit den Hufen. Der Alte rührte sich nicht. Bis zum Abend wartete ich, steckte zwischendurch meine Nüstern in seine Schuhe, atmete den Geruch ein und stellte mir vor, wie es sich wohl angefühlt hätte damals – meine Flanke an seinem Arm.

Dann zottelte ich los, immer geradeaus, der Strasse entlang, vorbei an so grossen Wiesen, wie ich sie vorher noch nie gesehen hatte, mit Blumen, ich badete in Bächen, roch angenehm, trabte zwischendurch, fand das anstrengend, verliebte mich in eine Eule, die wollte mich nicht, ging weiter und landete schliesslich hier, einem Ort, der mich ganz still machte. Ich sah Wasser, das vor mir begann und nirgends endete.

Da stehe ich nun und warte, bis das Ende des Wassers an mir vorbeizieht.

sarah king, 19. juni 2012

Foto © Marco Zanoni   

Serie manchmal 5





Und wir


Wie entspannt sie doch wirken:

frühjahrsglückliche Bäume,

ihre Äste neugierig ins Wasser tauchend,

der Fluss,

breitbettig an die Ufer schmiegend,

Mauersteine,

in sich ruhend,

Graffiti-Zeichen,

verspielt miteinander schmusend.


Und wir:

ihr Bühnenbild.


sarah king, 23. mai 2012

 

Fotos © Marco Zanoni  

Bevor es Winter wird

Sie steht am Fenster,

immerzu,

blickt in den Baum,

und bittet ihn,

er möge ein Stück zur Seite treten,

und die Sicht freigeben,

auf den Mann,

der auf der anderen Seite am Fenster steht,

immerzu,

und in den Baum blickt,

und ihn bittet,

er möge ein Stück zur Seite treten,

und die Sicht freigeben,

auf die Frau,

die am Fenster steht,

und er ihr winken kann,

und sie ihm,

bevor es Winter wird.

sarah king, 12. mai 2012

@ Marius Scherler 

serie manchmal 4 

Von Knechten und Piraten

Man könnte meinen, ich liebe das Wasser. Das stimmt eigentlich auch. Ich wurde am Wasser geboren. Mein Vater baute unser Haus direkt neben einem Teich im Wald. In diesem Haus, neben diesem Teich, legte sich meine Mutter auf den Boden und gebar mich. Fast verschwand ich in der Bodenritze, so klein war ich. Weil ich so klein war und zu verschwinden drohte, setzte sich meine Mutter neben mich und wartete, bis ich gross war. Der Vater machte es sich in der Zwischenzeit vor dem Haus gemütlich und passte auf, dass niemand mein Grosswerden störte. Manchmal wurde er etwas ungeduldig, stürmte ins Haus und überprüfte mein Wachstum. „Meine Güte hat der Kerl lange Beine!“, rief er dann. „Dem wird das Wasser nie bis zum Hals stehen. Weiter so. Weiter so“, murmelte er jeweils und verzog sich wieder vor das Haus und blickte in den Teich.

Inzwischen bin ich schon recht gross. Mit Mutter und Vater – beide schon ein bisschen alt – verbringe ich ab und zu die Nachmittagsstunden. Das reicht dann aber auch. Zu eng. Die klammern so. Viel lieber verziehe ich mich ins Bad. Der Wasserdampf hat es mir angetan. Stundenlang will ich auf dem Wannenrand sitzen und mich bedampfen lassen. Ich stelle mir vor, ich wär ein Pirat, der mit dem Schiff durch den Nebel segelt. Oder Bademeister auf dem Nil. Oder im Marzili. Muss zuerst noch abchecken, ob sich meine seelische Konstitution eher für ein antisoziales oder doch eher für ein offenes, dem Menschen zugeneigtes Gebaren eignet. So dürfe ich noch gar nicht sprechen, sagte Mutter mal. „Warte noch ein paar Jahre damit, oder lass es am besten ganz sein.“ Aber ab und zu will ich es einfach zeigen: „Hey, ich bin wer – auch wenn ich fast nur im Bad rumschleiche und dünne Beinchen habe.“ Klar – das ist nicht immer ganz ungefährlich, das Bad. Mal versuchte mich jemand zu ersäufen, weil ich die Wanne gleichzeitig besetzte wie er, und er sich von mir gestört fühlte. Da hab ich aber die Beine in die Hand genommen. Ruckzuck weg.

Bei Dir ist das anders. Du liebst mich. Das sehe ich an Deinem neugierigen Staunen, immer wenn Du mich erblickst. Du liebst es, mit mir die Badewanne zu teilen. Wir reden nicht dabei. Ich erlaube Dir sogar, mit Deinen Zehen meine Füsse zu berühren, manchmal, obwohl ich da ganz sensibel bin. Aber meist schaust Du mich nur an. So wie jetzt gerade. Als wolltest Du mich bitten, dass ich langsam, Bein vor Bein vor Bein vor Bein vor Bein vor Bein vor Bein vor Bein, den Kacheln entlang nach unten klettere, und mich zu Dir in die Wanne setze. Aber das tue ich nicht. Ich bleibe da oben, in der Ecke, als Knecht Deiner stummen Bitte. Gedankenwebend.

sarah king, 10. mai 2012

  Foto © Marco Zanoni  

Drahtseilakt

Sie nimmt die Küchenschere, klettert auf den Mast, schneidet den Draht durch und sieht zu, wie all die wohlgeformten Sätze, zuvor noch flüssig aneinandergereiht und sauber adressiert, plötzlich wild durcheinander wirbeln, auseinander driften, in Worte zerfallen, schöne und hässliche, leise und laute, wie sie stocken, sich verlieren, sich treffen oder nicht, wahllos Gehör finden oder versanden oder sich in Luft auflösen.

Eines davon dringt zufällig in ihr Ohr, gefolgt von einem nächsten, auch zufällig, und noch einem und noch einem, bis sie einen Satz im Kopf hat, einfach so, belanglos, und dieser eine Satz, der macht sie so glücklich, dass sie im Keller die Säge holt und den ganzen Mast absägt.

Himmel.

Sarah King, 3. Mai 2012

 @ Marius Scherler

serie manchmal 3

Nein. Ich denke.

  Foto © Marco Zanoni 

  Foto © Marco Zanoni

serie manchmal 2

Warum ich ein Loch ins Eis bohre und einen Fisch fische

Sie fragte mich, warum ich ein Loch ins Eis bohre und einen Fisch fische. Ich werde bezahlt dafür. Mehr sagte ich nicht. Enttäuscht wandte sie sich ab. Durch meine Augen erhoffte sie, Neues zu entdecken und Mensch zu sein. Ich gab mich blind und liess sie in Dunkelheit weiterziehen. Daran denke ich ab und zu. Sollte ich ihr wieder begegnen, werde ich ihr erzählen, was sie hören will.

Ich schäle mich morgens aus meinen vielen Schichten Bärenfell, löse mich von den warmen, nackten Körpern meiner Frau, Kinder, Mutter und Brüder und Schwestern. Ich muss nicht leise sein. Alle sind wach und beobachten mich still. Sie fragen nicht, wohin ich gehe. Unsere Hütte steht im Nirgendwo. Keine Ortsschilder, keine Strassennamen, kein Bäcker um die Ecke. Nur Welt um uns herum. Zuhause auf herrenlosen Eisschollen.

Im Schein der wärmenden Tranlampe schlüpfe ich in meine Kleider. Alles handgemacht von Annakpok. Die kniehohen Robbenlederstiefel, die Eisbärfellhosen, die Blaufuchsweste, gefüttert mit Vogelfedern. Wir sind Mann und Frau für die anderen. Für uns sind wir Annakpok und Iluak. Wir gehen in dieselbe Richtung. Süden. Im Winter reichen wir uns die Hand und erzählen Geschichten, die jeder von uns erlebt hat in der Zeit zwischen Sonnenauf- und untergang.

Annakpok blinzelt mich schweigend an. Ich beuge mich zu ihr, ganz sachte streifen sich unsere Nasen, fast berührungslos erzählen sich unsere warmen Atemzüge, was andere mit Worten sagen. Alles okay mit Dir? Alles okay mit mir. Wir schnuppern unsere Zuversicht. Ihr Geruch setzt sich in meinen Nasenhärchen fest und begleitet mich auf meine Reise.

Vor der Hütte warten meine Hunde. Bei meinem Anblick springen sie auf, drängen sich freudig an mich. Ein nervöses Rudel. Ich füttere sie mit ein paar Stücken rohem Walrossfleisch, setze mich auf einen Eisbrocken und warte, bis die Viecher satt sind. Dann nehme ich ein Stück Fleisch für mich. Es riecht verfault wie gestern und vorgestern auch schon. Lange kaue ich darauf herum. Der Frühlingsmorgen ist am schönsten. Die Welt um mich herum ist in orangeblaues Licht gehüllt. Das Stück Fleisch auf leerem Magen bestätigt mir den neuen Tag.

Ich fahre los, durch den zugefrorenen Fjord hinaus in die unendlichen Eislandschaften, feinkristallener Nebel umhüllt die majestätischen Kristallschlösser, keine Geräusche ausser dem Rauschen des Hundeschlittens. Die Stille legt sich wie ein warmer Mantel um mich. Manchmal halte ich unterwegs an, lasse mich mit dem Eis Richtung Süden befördern, wie auf den Rollbändern an Flughafen. Oder ich stelle mir vor, ich wäre ein Eisbär, lege mich bäuchlings an den Rand einer Eisscholle und blicke ins schwarze Meer. Dort verweile ich in der Gesellschaft von Wimperntierchen, Faden- und Strudelwürmern und leuchtenden von Dorschen verfolgten Krillschwärmen.

Mein Leben ist in Bewegung. Bin ich wach, jage ich Beute für meine Familie, meine Intuition schützt mich davor, selbst Beute zu werden. Angst kenne ich nicht. Fast nicht. Alle paar Tage, wenn ich nachts mit geschlossenen Augen im Iglu liege, sucht mich die Angst heim, dass ich nichts mehr sehe, wenn ich die Augen wieder öffne, dass Annakpoks Geruch von Zuversicht am nächsten Morgen nicht mehr in meinen Nasenhärchen hängt. Dann fehlt sie mir und ich rede durch die Luke im Schneedach mit ihr, auch wenn ich damit höchstens die Schneefüchse unterhalte, die vor meinem Schlafgemach herumschleichen. Am nächsten Tag will ich ein Loch ins Eis bohren und einen Fisch fischen. Den grössten Fisch, den ich jemals gefischt habe. Ein Geschenk für Dich, Annakpok. Das denke ich jeweils, bevor ich einschlafe.

Diese Geschichte erzählte ich ihr, als ich ihr erneut begegnete und sie mich wieder fragte, warum ich ein Loch ins Eis bohre und einen Fisch fische. Gierig lauschte sie jedem meiner Worte. Ihre Bewunderung war gross: Das alles erlebst Du Tag für Tag! Nein, sagte ich. Das alles habe ich in einem Buch gelesen, das ihr über unser Volk geschrieben habt. Ich lebe nicht weit von hier, am Rand der Stadt, in einem mehrstöckigen Haus. Abends trinke ich Bier mit Freunden oder ich fahre ziellos mit meinem Schneemobil durch die Gegend. Tagsüber verdiene ich mein Geld, indem ich Löcher ins Eis bohre, einen Fisch fische und mich dabei von Touristen fotografieren lasse. Und Fragen beantworte. Manchmal.

Überrascht blickte sie mich an. Dann ist das alles nicht wahr? Ich weiss es nicht, sagte ich. Jedenfalls nicht für mich. Darauf wusste sie lange nichts zu sagen. Und wie heisst Du wirklich? Ich blickte auf. Iluak. Dann bis morgen, Iluak, sagte sie und ging davon. Und Du?, rief ich ihr hinterher. Sie drehte sich um. Annakpok. 

sarah king, 21. april 2012

 Foto © Marco Zanoni

serie manchmal 1

Ein Lächeln von Welt

Bravo, denkt Ihr. Wie süss, in diesem Gewand, wie ein kleiner Herr, galant, die Damen im Griff. „Pass auf, Sohn, richte Deinen Blick nicht zu lange auf die Frauen, die sich für Dich verbiegen. Sonst verbiegen sie Dich.“ Vater hat Unrecht. Nichts verbiegt sich beim Anblick der Frauen, die sich vor mir die Beine verrenken, mir im doppelten Salto um die Ohren sausen, von morgens früh bis abends spät, freundlich lächelnd, jedenfalls wenn Ihr da seid, das Make-Up passend zur Farbe ihres beinzeigenden Kleidchens. Ich klopfe mit der flachen Hand auf meinen Schenkel, selbstvergessen, automatisch, wie auf Befehl fliegen die Beine vor meinem Gesicht vorbei, bis der Mensch vor mir zum Stillstand kommt, kopfüber, immer noch lächelnd. Das Lächeln gilt mir, gilt Euch. Aber ich spür es nicht.

Das weiss ich, seit ich am Zaun stand, der unsere Wiese von der Wiese der Welt trennt. „Was redest Du, Sohn“, mahnte Pablo, mein Onkel. „Die Welt ist hier, in den Seilen, in der Manege, zwischen den Gerüchen von Schweiss, Pferdemist, Popcorn und Desinfektionsmittel.“ Pablo hat Unrecht, ich stand am Zaun, auf unserer Wiese, blickte zwischen den Latten hindurch, hinter meinem Rücken die Kerzen, Sprünge, Drehungen, Spagate, gespucktes Feuer, vertanzte Seile, auf der anderen Seite ein Mensch, so gross wie ich, ganz still im Gras, mit Locken und Sommersprossen. Er sah mich nicht, blickte nur konzentriert geradeaus auf eine Heuschrecke. Bei jedem Sprung zuckte er kurz zusammen und hielt dann wieder ganz still. „He“, rief ich. Die Heuschrecke hüpft davon. Der Mensch schaute auf, die Konzentration zog sich aus seinem Gesicht zurück, wie das Wasser bei Ebbe. Er blickte durch mich hindurch, als wäre ich nicht da. Ich rückte meinen Hut zurecht, richtete den Kragen meines Hemds. „He“, sagte ich nochmal, erstaunt, wie leise meine Stimme plötzlich war. „Psst“, sagte er und kroch auf allen vieren durch das Gras der Welt, bis er plötzlich innehielt. „Da!“, er drehte sich zu mir um. „Sie ist da.“ Seine Mundwinkel hoben sich, kaum merklich. Ich hielt die Luft an, fühlte, wie sich auch meine Mundwinkel hoben. So fühlte sich also ein Lächeln von Welt an, durch die Zaunlatten hindurch. Das, Vater, das hat mich verbogen. Dann ging er, dreht sich um, winkte, und rannte los, als wäre seine Welt nicht durch einen Radius determiniert wie die meine.

Das denke ich, während Ihr mich seht und lacht und klatscht und ruft, wie schön, die Nummer, der kleine Herr, so galant, alles im Griff, umschwärmt, bereist, beweglich, ein Mann von Welt. Ja, das ist meine Welt. Manchmal. Ich klopfe auf den Schenkel, höre den Hall, wie er zwischen Euren Köpfen hindurch zischt, den Wänden entlang der Decke entgegen, bis ganz zuoberst, wo er durch eine Ritze im Zelt in die Nacht verschwindet. Wie eine Marionette, deren durchsichtige Fäden ich in den Händen halte, wechselt die Kindfrau vom Handstand in den Spagat. Für einen kurzen Moment wende ich ihr mein Gesicht zu und nicke. Erstaunen in ihren Augen und plötzlich, kaum merklich, ein Lächeln von Welt, mitten in der Manege, zwischen uns.

sarah king, 1. april 2012


zu viel tiefgang, um all die stufen wörtlich zu überwinden - worte sind nicht schwindelfrei.

© Marius Scherler 

gedankenkollision.

© Marius Scherler 

Bilder © Marius Scherler  

Wenn Du mitgehst
            Ein Leichte-Kleider-Tag,
                         mit einem Leise-Ahnung-Moment,
                                                             dass manches bleibt,
                                                                                 anderes fliesst,
                                                                                           und selbst das Fliessende bleibt,
                                                                                                                             wenn Du mitgehst.
                                                                                                                                             
(Januar 2012)     

Foto&Bild © Marius Scherler 

Wenn sich eine unbewegliche Hausfassade in vierhundertzwanzig Blautönen abbilden lässt, wie gross ist das Spektrum dann für Dich, Lebendiger?

(Januar 2012)

serie chimären 2 

zusammenfassung der evolutionsgeschichte.

© Andreas Beers 

serie chimären 1 

bei seinem streben nach ausgewogenheit in allen dingen und seiner ausbildung zum universalgenie wurde er übermütig, grenzenlos und schliesslich unidentifizierbar.

dezember 2011

© Andreas Beers 

serie eigenleben 3

Aus der Reihe tanzen. einen leichten Schubs dem ersten, fast unbeabsichtigt, ohne das Gesicht zu verziehen, und damit alle anderen zum Erliegen bringen, über den Fluchtpunkt hinaus.

dezember 2011

© Marius Scherler

serie eigenleben 2

zukleinzugrossüberhinternebenzueinanderstehenvonobenrunter
untenraufwegdrückendrängelnzwischendurchzackellbogeninrippe
auabeepspeichelfadenscheinigeslächelnextrastundemeditation
mercibitteentschuldigungderzuferndiezunahgehmirvomkopfmitfuss
musswachsenwachsenwachsenuffobenfeuewegblossvielrauch
ohlebenbella.

dezember 2011

© Marius Scherler

serie eigenleben 1

wohnsiedlung für basejumper, flugträumer, hochmütige, bodenlose, vordereigenenhaustürkehrenüberdrüssige

november 2011

© Marius Scherler

Niagarafälle

Kürzlich sind wir uns begegnet und Du erzähltest mir diese Geschichte von dieser Frau.

Unaufhörlich, sagtest Du, unaufhörlich spürte ich, dass sie neben mir sitzt. Ich hörte die Kugelspitze ihres Schreibers über den Notizblock fahren, stellte mir die Linien vor. Feine geschwungene Linien. Die Hand, die den Schreiber führte, war nur eine Verlängerung ihrer Gedanken. Oder eine Fortsetzung der feinen geschwungenen Linien auf dem Papier.

Immerfort, sagtest Du, immerfort wollten meine Augen einen Blick auf diese Hand werfen und auf den Arm, der die Hand führte, und auf die Schulter, die den Arm hielt und verdeckt war von ihrem Haar. Aber nie führte der Blick über die Schuhspitzen hinaus. Wie päpstliche Gardisten hielten sie alles Fremde vor dem Heiligen fern. Selbst einen Augenblick.

So kam es, sagtest Du, so kam es, dass ich mir ein Bild von ihr machte, das ich mit mir trug. Selbst dann noch, als sie mir einen Augenblick gewährte, als ich in ihren Armen lag, mit dem Kopf zwischen ihren Brüsten, dem Blick auf die Schulter, die den Arm hielt, der ihre Hand führte. Selbst dann noch, als sie die Tür hinter mir schloss und abschloss.

Irgendwann, sagtest Du, irgendwann viel später werde ich ihr begegnen wollen, vielleicht an den Niagarafällen, wo es nur vorwärts geht und nicht zurück. Ich werde ihr das Bild zeigen, das ich mit mir trage, und sie fragen, ob sie auch ein Bild mit sich trägt. Dann werde ich ihr meines von ihr zurückgeben und sie mir ihres von mir.

Diese Geschichte von dieser Frau erzähltest Du mir.

Wer war die Frau, hörtest Du mich fragen, bevor Du weitergingst.

Du drehtest Dich nochmals um, schautest nach links und nach rechts, zucktest mit den Schultern: Keine Niagarafälle hier.

sarah king, november 2011

© Andreas Beers

Bilder © Marius Scherler

Berner sein

Fremder aus dem Osten,
du willst ein Berner sein,

malst hunderte von Dächern und leeren Gassen,
lernst mit französischen Karten jassen,

meisselst deinen Namen in Pflasterstein,
lässt dich auf ein Berner Meitschi ein,

derweilen steigen die Berner Tagesresten,
durch den Schornstein in den Wind aus Westen,

der trägt sie aus der Hauptstadt fort,
zurück zu deinem Ursprungsort.

Schön, sind wir da und dort.

sarah king, november 2011


Bilder © Marius Scherler

Die kleinen unsichtbaren Morde des Alltags

A: ich muss euch ... sagen, dass ich ... ich euch ... aus genannten Gründen verlassen muss,
C:                     ticktick                                                                                              fhhhhhhhhhh
A: was mir .. schwer fällt, nach all den Jahren.
C:                                mghmgh
B: Das bedauern wir sehr,
C:                                   ?zack
B: aber wir wollen, solange das zu Bedauernde noch nicht eingetroffen ist,
C:                                                                                    grrticktick
B: noch keine
C: tickticktickticktick
B: Trauer zeigen!
C: pengpengpeng, piepiepiepiepiepiepiepiep, PENG! klirrrrrrrrrrrrrr, piiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii........

sarah king, november 2011

Es ist ein kleines Zimmer, mit einem kleinen Fenster und mit weissen Wänden.

In der Ecke liegt eine Matratze am Boden. Auf dieser liegst Du, den Kopf in Deinen Armen verborgen.

Sie beugt sich zu Deinem Gesicht hinunter, spürt Deinen Atem auf ihrer Wange. Was wünschst Du Dir?

Lange sagst Du nichts, so lang, dass sie denkt, Du habest die Frage wieder vergessen.

Sachte drückt sie ihre Stirn an Deine Stirn. Vielleicht morgen, sagt sie und erhebt sich zum Gehen.

Dass Du die schwarzen Streifen mitnimmst und die weissen hierlässt, sagst Du plötzlich, und lächelst.

sarah king, november 2011

© Andreas Beers

Flieger,

das Meer

ein Himmel,

der Himmel

ein Meer,

ich der Sturm,

dich im Auge,

nie gesehen,

und doch überall.

sarah king, november 2011

© Andreas Beers

no fast forward.

© Marco Zanoni